Die Kunst der Zerstörung – Der Null-Mensch als ganzer Mensch

by Barbara Kuon


English Abstract (by the editors)

In her essay entitled Die Kunst der Zerstörung (The Art of Destruction) Barbara Kuon argues that modern art bonds with destruction in order to overcome the dissolution of the self. Why are destructive artistic practices the means for such undertaking?

Kuon describes how the modern self permanently expands by connecting itself to media extensions and thereby loses control over its borders. Consequently the self experiences fragmentation and alienation. Hence the self becomes aware of its very limited perspective: being connected to and immersed in a material flow (be it life, or society, or the economy), it will never be able to have an overview of the whole of life, or the whole of society, or the whole economy. That is why the realm of the so-called unconscious (or uncontrollable) cannot but grow.

In modernity the threat that comes from being without borders leads to the attempt to set clear boundaries. This longing for seclusion leads to nationalist movements, that is, to the effort to perceive oneself as a closed entity. Since openness is a structural moment of modernity, Kuon argues, it is not possible to go back to individuals or nations as closed entities. The attempt to do so culminates in total destruction, in war, as historically World War I shows. Kuon concludes that those who try to keep themselves closed will be opened forcefully, whereas those who chose to open themselves, as the modern artists do, become invulnerable. Therefore the only strategy to prevent oneself from being opened by force is to welcome self-fragmentation, self-dissolution, and self-renunciation.

Modern artists decided that it would be better to become open by choice than to be opened by force. By embracing destruction, fragmentation and alienation the artist becomes independent and invulnerable, because by doing so he prevents himself from succumbing to foreign (i.e. natural, social, economical, political) destructive forces. Modern art movements like Dada, the Futurists and Fluxus, amongst others, have developed destructive practices in order to empower themselves: words become senseless, machines inoperable, bodies fragmented. Through senseless words, inoperable machines, and fragmented bodies, the whole of language, the whole of life, the whole of society, or the whole of economics, which are usually hidden behind meaningful words, operating machines, and intact bodies, may be disclosed – if only for a transitory illuminated moment.
 

Die Kunst der Zerstörung
Der Null-Mensch als ganzer Mensch

Das Verhältnis der modernen Kunst zu Gewalt und Zerstörung ist ganz offensichtlich eines der tiefen Komplizenschaft. Während die vormodernen Künstler sich im Auftrag der Herrschenden oft genug der Darstellung von Krieg, Gewalt und Zerstörung – ausgeführt von Göttern und Helden – oder aber der Schilderung des christlichen Martyriums (das heißt der Heil bringenden Praxis der Selbstzerstörung) widmeten, gingen die modernen Künstler dazu über, die Zerstörung selbst zu praktizieren, zu propagieren und zu verkörpern – anstatt wie ihre vormodernen Kollegen bloß Bilder vom Zerstörungswerk oder Selbstzerstörungswerk anderer zu produzieren.

Inspiriert vom ‹grausamen Marquis› de Sade legte der Dichter Charles Baudelaire mit seiner poetischen Technik den menschlichen Körper, die Stadt, den Staat, die Natur, die Moral und nicht zuletzt die Sprache in Trümmer (wofür ihn Nietzsche sehr bewunderte). Alle intakten, kohärenten, gesunden Körper verwandeln sich unter Baudelaires zersetzendem Blick in offene, zerfallende, fließende, hybride Körper von Kranken, Hypersensi-blen, Hypernervösen und Synästhetikern, verwesenden Leichen, lebenden Toten aller Art (Vampire, Vampiretten, sozial Deklassierte, Prostituierte, Fetischisten, Kriminelle, Obdachlose, Lumpensammler, ‹Bohémiens›, ‹Proletarier›), Mischwesen aus Mann und Frau, Mensch und Tier (Chimären), Mensch und Pflanze, Mensch und Metall, Mensch und Mineral, Mensch und Automat (heute Cyborgs genannt). Auch den architektonischen Körper der Stadt Paris verwandelt dieser Blick in eine lebende Leiche, in eine bewohnte Ruine. Baudelaires Blick entspricht ganz dem Blick des berühmten ‹Engels der Geschichte› (Angelus Novus), wie er von Walter Benjamin beschrieben wurde: Dieser Engel ist entsetzt, weil er, mit dem Rücken zum Paradies schwebend, auf die Geschichte zurückblickt und dabei anstelle eingelöster Versprechen und erfüllter Hoffnungen nur Trümmer und Ruinen sieht. Wo Baudelaire hinblickt, sieht er ebenfalls nur Zerstörung. Doch im Unterschied zum Engel der Geschichte begrüßt er den Anblick von Trümmern aller Art.

Baudelaire nachfolgend haben sich viele andere Künstler zu Gewalt und Zerstörung bekannt. ‹La destruction fut ma Béatrice›, gesteht Stéphane Mallarmé 1867.1 Im Jahr 1909 begrüßt F.T. Marinetti den Krieg als die ‹einzige Hygiene der Welt› und ruft zur Zerstörung aller Museen, Bibliotheken und Akademien auf.2 Kasimir Malewitsch präsentiert 1915 sein Schwarzes Quadrat, das er als Asche aller verbrannten Bilder bezeichnet, und plädiert wenig später für die Zerstörung des Museums (1919).3 Für André Breton besteht der ‹einfachste surrealistische Akt› darin, ‹mit dem Revolver in der Hand auf die Straße zu laufen und so viel man kann blind in die Menge zu schießen› (1930).4 In den 1960er und 1970er Jahren veranstaltet die Fluxus-Bewegung regelmäßig kollektive Aktionen der Zerstörung (piano smashing), propagiert Gustav Metzger die autodestruktive Kunst (auto-destructive art), produziert Jean Tinguely selbstzerstörende Kunstwerke, verwandelt Gordon Matta-Clark intakte Gebäude in ‹Anarchitektur› (Cuttings). Sicherlich zeigt sich nicht bei allen Künstlern die Affinität von Kunst und Destruktion so deutlich wie bei den eben genannten. Doch wie versöhnlich und pazifistisch sich ein Künstler auch präsentieren mag, so gilt doch allen Künstlern das Urteil, ein Kunstwerk sei harmlos, als die am meisten gefürchtete und eigentlich vernichtende Bewertung einer künstlerischen Arbeit.

Wenn Künstler sich zur Zerstörung bekennen, sind sie jedoch keineswegs an einer Zerstörung um der Zerstörung willen interessiert – wenngleich ihnen dies von der konservativen Kritik oftmals unterstellt wird. Vielmehr zielen sie mit ihrem demonstrativen Bekenntnis zur Zerstörung auf eine Erkenntnis – und zugleich auf eine Lebensform – die nur mittels Zerstörung geschaffen werden kann. In diesem Sinne kann man von einer ‹kreativen Zerstörung› sprechen. Allerdings verführt dieser Begriff leicht zu einem Missverständnis: Man meint, dass der Zerstörer, wenn er schon kein Kunstwerk im konventionellen Sinne schafft, doch wenigstens Raum schafft für neue Kreationen, für die Errichtung einer neuen Ordnung, um derentwillen zunächst einmal eine alte Ordnung zerstört werden muss. Die genannten Beispiele künstlerischer Bekenntnisse zur Zerstörung zeigen aber: Hier wird nicht mittels Zerstörung Raum für neue Kreationen oder Ordnungen geschaffen, sondern das Bekenntnis zur Zerstörung ist hier die Kreation. Was hier geschaffen wird, ist eine neue Perspektive, ein neues, anderes Sehen. Die Zerstörung ist nicht das Werk dieser Künstler. Vielmehr verweisen sie mittels ihrer Werke, ihrer Aktionen und Gesten auf eine Zerstörung, die ohnehin stattfindet – eine Zerstörung, der unterschiedliche Urheber zugeschrieben werden (Natur, Gesellschaft, Staat, Markt etc.), die aber letztlich eine Zerstörung durch die Zeit ist, genauer gesagt durch den chronischen Mangel an Zeit, der die menschliche Existenz definiert. In diesem Sinne kann Walter Benjamins Beschreibung des ‹destruktiven Charakters› als präzise Beschreibung des modernen Künstlers verstanden werden:

‹Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere Mauern oder Gebirge sehen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.›5

Benjamin selbst bekennt sich zur Zerstörung, indem er gesteht, dass er tiefere Bindungen eigentlich nur zu Personen verspürt, denen ein solcher destruktiver Charakter nachgesagt wird. (Auch in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt stellt sich Benjamin auf die Seite der ‹göttlichen Gewalt›, die im Gegensatz zur ‹mythischen Gewalt› nicht die alte Ordnung zerstört, um an ihrer Stelle eine neue Ordnung zu errichten, sondern die eine rein destruktive, anarchische Gewalt ist.6 In dem Blick des destruktiven Charakters lässt sich unschwer der Blick des Engels der Geschichte erkennen, nur fehlt ihm jegliches Entsetzen. ‹Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt […].› Das Bild der Welt im Zustand der Zerstörung verschafft dem destruktiven Charakter gar ‹ein Schauspiel tiefster Harmonie›.7

Allgemein gilt die Moderne nicht als Zeitalter der Harmonie. Nach dem Tod Gottes lässt sich das Verhältnis von Mensch und Welt, Mensch und Mensch, Mensch und Natur, Mensch und Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres als ein harmonisches beschreiben. Auch im Menschenbild des Humanismus, das eine harmonische Beziehung zwischen Seele und Körper, Vernunft und Leidenschaft, Individuum und Gesellschaft, Mensch und Natur, Verstand und Welt vorsieht, erkennen sich die Zeitgenossen der Moderne nicht wieder. Mensch und Mensch, Mensch und Gesellschaft, Mensch und Welt passen nicht zueinander. Figuren der Dissonanz, Disharmonie, Geworfenheit, Verlassenheit, Unruhe, Ohnmacht, Angst oder Langeweile dominieren die Diagnosen der modernen Philosophen. Sie alle beschreiben den Menschen als fundamental abhängig von Kräften, die dieser letztlich nicht zu beherrschen vermag – die ihn hervorbringen und zugleich zerstören, die ihn benutzen, wenn er sie zu benutzen meint, die ihn kontrollieren, wenn er sie zu kontrollieren meint, die ihn fragmentieren und dominieren, die ihn nur Trugbilder, Traumbilder und Wahnbilder sehen lassen, selbst aber im Verborgenen bleiben. ‹Das Unbewusste› ist der Name für dieses Unbeherrschbare, Unkontrollierbare, Unüberblickbare, das im Jenseits aller Oberflächen, im Inneren der Welt wie im Inneren des Menschen, vermutet wird.

Für Schopenhauer reitet der menschliche Verstand auf dem unbewussten Willen zum Leben, wie ein winziger Zwerg auf den Schultern eines mächtigen Riesen reitet, der ihn jederzeit abschütteln kann. Oder: Wie ein Schiffer in einer Nussschale schaukelt das Individuum auf dem wogenden und tobenden Ozean des Unbewussten, um früher oder später von ihm verschlungen zu werden. Für Marx sind die alles dominierenden Kräfte die Produktionsverhältnisse, die alles Ständische und Stehende auflösen, alle gesellschaftlichen Ordnungen permanent umwälzen, ohne von einzelnen Menschen kontrolliert werden zu können: Was der Einzelne sieht, denkt oder tut, wird ihm von seiner Position im Produktionsganzen diktiert. Ein Muße treibender Bürger und ein schuftender Arbeiter werden sich niemals eine Perspektive, eine Gesellschaft, eine Wahrheit teilen. Für Nietzsche schließlich ist es das Leben, das dem Einzelnen die Perspektive diktiert: Was der Einzelne sieht, denkt oder tut, wird ihm von seiner Position im Lebensganzen diktiert. Ein schwacher, kranker, dekadenter Körper und ein starker, gesunder, vitaler Körper werden sich niemals eine Perspektive, eine Gesellschaft, eine Wahrheit, eine Moral, eine Kunst teilen können. Sowohl für Marx als auch für Nietzsche kann der Einzelne seine beschränkte, durch die Position seines Körpers in der Produktion bzw. im Leben diktierte Perspektive nicht überwinden. Zwar mag er seine begrenzte Perspektive verschieben, seine Position durch sozialen Aufstieg oder körperliches Training verbessern können. Die Begrenztheit seines Blicks aber bleibt, weil er die ganze Produktion, das ganze Leben nicht zu überblicken vermag – weil er mit seinem Körper immer einen beschränkten Standpunkt im Raum und in der Zeit einnehmen muss. In der Produktion und im Leben ist keine universale, göttliche Perspektive, kein Standpunkt oder, besser gesagt, kein Schweben jenseits von Raum und Zeit gegeben. Zwar gelten sowohl Leben wie auch Produktion als durch und durch materielles Kontinuum. Aber sie sind, auch wenn dies paradox erscheinen mag, materiell und unbewusst zugleich – weil sie eine Materie sind, die sich nicht zeigt, die nicht zugänglich ist, die sich nicht gänzlich überblicken, nicht vollständig kontrollieren lässt.

Nun kann man sich fragen: Wenn Marx und Nietzsche über die Produktion und das Leben sprechen – ist ihnen überhaupt zu trauen? Versuchen sie nicht einfach nur, ihre eigene begrenzte, lebens- und produktionsbedingte Perspektive als universale Perspektive zu verkaufen? Sicherlich können auch Marx und Nietzsche ihre beschränkte Perspektive nicht transzendieren. Denn auch sie haben einen Körper, dessen Position im Produktions- bzw. Lebensganzen ihnen ihre Perspektive diktiert: im Fall Marx’ die Perspektive eines unproduktiven Bildungsbürgers, dem seine Arbeitslosigkeit als Interesselosigkeit im Sinne interesseloser, objektiver Erkenntnis erscheint und der daher seine beschränkte bürgerliche Perspektive irrtümlicherweise für die Perspektive der ganzen Menschheit halten muss; im Fall Nietzsches die Perspektive eines Schwächlings, eines Kranken, dem seine Kraftlosigkeit als Interesselosigkeit im Sinne interesseloser, objektiver Erkenntnis erscheint und der daher seine beschränkte krankheitsbedingte Perspektive für die Perspektive der ganzen Menschheit halten muss.

Daher dürfen Marx und Nietzsche nicht als Wissenschaftler verstanden werden, auch wenn sie einem solchen Missverständnis selbst immer wieder Vorschub geleistet haben. Marx und Nietzsche sind vielmehr Revolutionäre, die zur Umkehr der Perspektive – zur Überwindung der begrenzten Perspektive und zur Eroberung einer unbegrenzten, totalen Perspektive – aufrufen. Marx und Nietzsche appellieren daran (wie später Freud), das Unbewusste bewusst zu machen. Sowohl die Perspektive des Proletariers als die eines Menschen ohne Eigentum und ohne Interessen, als auch die Perspektive des Übermenschen als die eines Menschen ohne Hintergedanken und ohne Eigenschaften sind solche totalen Perspektiven. Die Philosophie von Marx und Nietzsche will nicht den Horizont des Wissens erweitern, sondern erteilt einen Befehl, die Perspektive zu ändern, die Welt aus der unbegrenzten Perspektive des Proletariers bzw. des Übermenschen (des Null-Menschen) zu sehen8 – diese Perspektive zu verkörpern, in ein Werk zu setzen. Diesem Befehl zu folgen bedeutet aber nichts anderes als: Künstler zu sein. Die Künstler praktizieren diese Umkehr der Perspektive, zu der Marx und Nietzsche schreibend aufrufen. Die moderne künstlerische Praxis ist eine Praxis der freiwilligen Selbstenteignung, Selbsterniedrigung, Selbstentmenschlichung, der Selbsttransformation in eine Art Proletarier und Übermensch zugleich. Sie kann ihre Aufgabe, die unbegrenzte Perspektive zu verkörpern, nur mit den Mitteln der (Selbst)Reduktion oder der (Selbst)Destruktion erfüllen.

Doch warum erscheint überhaupt die Beschreibung der Moderne als Zeitalter des Unbewussten so plausibel? Die Moderne ist zunächst ein- mal das Zeitalter der sich realisierenden Aufklärung, der fortschreitenden Rationalisierung, Industrialisierung, Technisierung und Medialisierung. Mittels unterschiedlicher Techniken expandiert der Mensch mit dem Ziel, die Kontrolle seiner selbst wie seiner Umgebung zu perfektionieren. Zu diesem Zweck verbindet er seinen Körper mehr und mehr mit Apparaten, Werkzeugen, Maschinen, technischen Medien und Netzwerken aller Art. Dem Medientheoretiker Marshall McLuhan folgend lassen sich alle Medien (von der Sprache über das Rad und die Dampfmaschine bis zum Internet) als Extensionen des menschlichen Körpers betrachten. Über unseren Körper und seine Extensionen – die Medien, die wir benutzen – sind wir mit allen und allem verbunden, vernetzt ; wir stehen in einem materiellen Kontinuum, das wir wahlweise Produktion, Leben, Natur, Markt, Internet, Menschheit oder Welt nennen. ‹Wir tragen die Menschheit als unsere Haut›9, sagt McLuhan. Insofern wir an dieses Kontinuum angeschlossen sind, insofern wir die unterschiedlichen Medien zu Zwecken der Produktion, des Konsums und der Kommunikation (der Produktion und des Konsums von Information) benutzen, versetzen wir uns in vielfältige Extensionen unserer Sinnesorgane, Zähne, Hände, Füße, unserer Haut, unseres Nervensystems etc. und expandieren unseren Machtbereich auf den ersten Blick maximal – doch schaffen wir zugleich einen riesigen Bereich unserer Ohnmacht, da wir dieses Kontinuum auch bei noch so großer Anstrengung nicht überblicken, nicht kontrollieren können. Als Medienbenutzer haben wir keinen Zugang zum Ganzen, keine Macht über das Ganze des Lebens, der Natur, des Marktes, des Internets usw. Was auch immer wir zu sehen bekommen – mit unserer begrenzten Perspektive übersehen wir strukturell einen dunklen, unkontrollierbaren, schicksals- oder zufallsbeherrschten, bedrohlichen, unmenschlichen, eben ‹unbewussten› Bereich, in dem wir die Quelle unserer jederzeit möglichen Entmachtung vermuten müssen.10 Dieser ‹unbewusste› Bereich erscheint uns vom dunklen, gleichgültigen Schicksal, vom Zufall oder von ob- skuren, dämonischen Kräften beherrscht.

Mit anderen Worten: Das Unbewusste entsteht ganz einfach infolge unserer Benutzung von Medien zu Zwecken unserer Selbsterhaltung oder Selbstexpansion (Selbsterhaltung unter den Bedingungen allgemeiner Konkurrenz). Solange wir ein Medium instrumentalisieren, solange dieses Medium ‹funktioniert›, können wir es als Medium, als Ganzes nicht wahrnehmen. Um einige simple Beispiele zu nennen: Solange wir die Sprache zum Zweck der Kommunikation benutzen, das heißt in kohärenten Sätzen sprechen, können wir das Ganze der Sprache nicht wahrnehmen; wir hören nur auf die Bedeutung der Sätze, den ‹Inhalt› der Sprache. Die Sprache als Sprache, als ganze Sprache (auch in ihrer materiellen Dimension) zeigt sich hingegen, wenn jemand in unverständlichen, sinnlosen Sätzen spricht – wenn sich jemand, ob absichtlich oder unabsichtlich, als unfähig zeigt, die Sprache korrekt zu benutzen. Genauso nehmen wir unseren Körper als ganzen vor allem dann wahr, wenn er nicht funktioniert, wenn er offen ist, wenn er sich von seiner Umgebung nicht abgrenzen kann, wenn wir ihn nicht oder nicht optimal benutzen können – im Schmerz oder im Zustand der Krankheit. Auch ein elektronisches Medium mitsamt der Kaskade weiterer Medien, mit denen dieses Medium verbunden ist (Stromnetze, Telefonleitungen, Konzerne etc.), nehmen wir als Medium nur wahr, wenn es nicht funktioniert.

Seit der Mensch existiert, benutzt er Medien – allen voran seinen Körper und seine Sprache. Seit Beginn der Moderne aber hat die Zahl der Medien – der Extensionen, in die der Mensch die Organe und Funktionen seines Körpers auslagert – sprunghaft zugenommen. Genauso sprunghaft musste der Bereich des Unbewussten wachsen. Das Unbewusste ist der Name für die unüberblickbare, unkontrollierbare Seite des materiellen, medialen Kontinuums, mit dem jedes Ich, jedes Selbst, jedes Individuum verbunden ist. Je größer die Zahl der medialen Verbindungen, Anschlüsse, Interdependenzen, desto größer muss der Bereich des Unbewussten erscheinen; desto stärker und bedrohlicher muss der Eindruck werden, dass das Ich außer sich (oder ‹entfremdet›) ist. Ein Selbst, das mit allen und allem verbunden ist, das seine Körperfunktionen ausgelagert hat, kann seine Grenzen nicht kontrollieren, ja nicht einmal definieren: Jeder Versuch, ein positives Bild von seinem Körper zu erstellen, ist zum Scheitern verurteilt, da sich die Grenzen dieses Körpers in den unüberschaubaren Tiefen des medialen Kontinuums verlieren. Um ein Bild von sich zu machen, müsste es sich als das Ganze darstellen; aber dieses Ganze kann es mit seiner begrenzten Perspektive als lebendes, sprechendes, arbeitendes, konsumierendes, kommunizierendes Individuum nicht überblicken. Was dieses Selbst aber durchaus wahrnimmt, ist seine Offenheit, seine Grenzenlosigkeit und damit auch die grenzenlose Exponiertheit und Angreifbarkeit seines angebundenen, angeschlossenen Körpers. Seine Haut ist jedenfalls nicht die Grenze seines Körpers. Das Individuum ahnt, dass es irgendwo da draußen ist, und dass es tendenziell die hybride Gestalt einer Mischung aus Mensch und Maschine, Mensch und Automat, Mensch und Tier, Menschlichem und Unmenschlichem, Lebendem und Totem hat. Es ahnt, dass es eine Chimäre, ein Cyborg11, ein Zombie ist. Und diese Ahnung wird mit fortschreitender technologischer Entwicklung stärker und stärker. Dabei befindet sich das vermeintlich Innere des Individuums ebenfalls irgendwo ‹da draußen›: Die Bilder, die mittels Data Mining und Mustererkennungs-Maschinen aus den Daten, die ständig aus ihm abfließen, von ihm erstellt werden, die Identität, die andere ihm zuschreiben, bilden sein eigentliches Inneres, das ihm selbst allerdings weitgehend unzugänglich bleibt. Die innersten Wünsche, Orientierungen, Geheimnisse befinden sich immer schon in den Händen der anderen.

Was ist überhaupt dieses Ich, dieses Selbst, dieses Individuum? Das Individuum formiert sich letztlich als Antwort auf eine gesellschaftliche Forderung, auf eine Zuschreibung von Seiten der anderen: Wir sind aufgefordert, einen eigenen, intakten Körper und eine eigene, in kohärenter Sprache formulierte Meinung zu besitzen und zu verteidigen; wir sollen unseren Körper und die Sprache beherrschen, wir sollen den Körper und seine Extensionen kontrollieren. Als aufgeklärte Bürger sind wir zu einem ‹gesunden› Egoismus, zur Selbsterhaltung, und das heißt: zur Selbstexpansion verpflichtet. Denn unter den Bedingungen allgemeiner Konkurrenz lässt sich die Verteidigung der eigenen Grenzen zur Außenwelt nur mit der kontinuierlichen Offensive, mit der permanenten Expansion des Ich sichern. Diese Aufgabe, ein Individuum zu sein, bedeutet allerdings, Verantwortung für etwas übernehmen zu müssen, was man strukturell nicht verantworten kann. Denn das Ich, das mit seinem Körper und dessen Extensionen in das materielle, chaotische Kontinuum des Lebens, der Natur, des Marktes eingebunden ist und nicht wissen kann, wo es beginnt und wo es endet – weder im Raum noch in der Zeit –, hat immer nur partielle Macht über den Körper, die Sprache und alle seine anderen technisch-medialen Extensionen. Und das bedeutet: Es ist aufgefordert, permanent Eigenes, Eigentum (im weitesten Sinne) zu erobern – und wird zugleich permanent enteignet. Es ist aufgefordert, seine Grenzen zu sichern, das heißt kontinuierlich zu expandieren – und wird mit jedem Schritt der Expansion, der ja eine Auslagerung des Ich in mediale Extensionen bedeutet, zwangsläufig mehr und mehr geöffnet. Ein souveräner, rational handelnder Mensch sein und einen gesunden, intakten Körper haben zu wollen, bedeutet also paradoxerweise, ein unmenschliches, übermenschliches, transhumanes Wesen, eine Chimäre, ein Cyborg zu sein und einen kranken, offenen Körper zu haben.

Je forcierter eine Gesellschaft ihre technologische Entwicklung vorantreibt, desto unerbittlicher erzwingt sie zugleich die Öffnung der Körper ihrer Mitglieder und deren Vermischung mit Maschinen, Apparaten, Medien und Massen aller Art (Massen von Produzenten, Massen von Konsumenten, Massen von Arbeitern, Bürokraten, Stadtbewohnern, Fremden etc.). Die Reaktion auf eine solche forcierte Öffnung besteht oftmals in dem protektionistischen oder nationalistischen Ruf, Grenzen zu sichern, Grenzen zu ziehen, Grenzen zu schließen, um dem kontinuierlichen Prozess der Öffnung Einhalt zu gebieten oder gar die Öffnung rückgängig zu machen.12 Man propagiert dann gern die Rückkehr zum humanistischen Menschenbild, zum Menschen der gesunden Mitte und des Maßes, zum klassizistischen Körperkanon, zum Menschen, der sich und seine Umgebung (‹Heimat›) souverän beherrscht, seine Grenzen kontrolliert, von keinem Unbewussten bedroht wird, niemals außer sich ist, keine Entfremdung kennt, sich nur im Eigenen befindet etc. Abgesehen davon, dass diesem Bild nur ein Mensch entspräche, der mit nichts und niemandem kommuniziert und keine Medien benutzt – keine Apparate, keine Maschinen, keine Fortbewegungsmittel, ja nicht einmal die Sprache –, zeigt die Geschichte, dass jede Gesellschaft, die sich konsequent zu schließen versucht, früher oder später zwangsweise und meist äußerst gewaltsam geöffnet wird. So versuchte etwa die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs, eine rasante technologische Entwicklung, einhergehend mit einer forcierten Öffnung und Vermischung der Körper ihrer Mitglieder, durch eine Gegenbewegung der nationalistischen Schließung und der humanistisch-klassizistischen Remodellierung dieser Körper zu kompensieren. Die (vorläufig) ultimative Phase dieses Projekts zur Produktion gesunder, intakter, geschlossener, unvermischter Körper – der Erste Weltkrieg – geriet allerdings sehr schnell zu einer Veranstaltung der Öffnung und Vermischung der Körper von extremer Brutalität und bis dahin unbekanntem Ausmaß.

Wenn jeder Versuch der nationalistischen Schließung früher oder später mit einer brutalen und größtenteils unfreiwilligen Öffnung endet, dann ist die nationalistische Strategie, der medientechnologisch erzwungenen Öffnung und Entäußerung des Körpers durch Schließung der Grenzen zu trotzen, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Es gibt aber eine Strategie des souveränen Reitens immer neuer Wellen des technisch-medialen Fortschritts, die garantiert funktioniert – und diese ist die künstlerische. Das Erleiden erzwungener Öffnung lässt sich zuverlässig nur mit einer Strategie der freiwilligen Öffnung bekämpfen. Seit Baudelaire und seinen dekadenten Nachfolgern, durch alle avantgardistischen Bewegungen hindurch, praktizieren die modernen Künstler die freiwillige und demonstrative Selbstöffnung, Selbstentfremdung, Selbstentäußerung, Selbstenteignung – im Medium der Sprache, des Bildes oder der Musik, verstanden als Extensionen des Körpers. Nicht nur sind ihre Werke bevölkert von transhumanen Mischwesen aus Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Mensch und Automat, Mann und Frau, Lebendem und Totem, Individuum und Masse ; sondern sie sprechen auch eine offene, kranke, anarchische Sprache, die spricht, ohne etwas (Kohärentes, Eigenes) zu sagen. Auf dem Papier zerfällt das Gedicht in zusammenhanglose Satzfragmente, sinnlose Laute oder isolierte Buchstaben, mit Druckerschwärze traktiertes Blattwerk. ‹Die Syntax ist aus den Fugen geraten›, schreibt Hugo Ball 1915 über die von Marinetti gedichteten Parole in libertà. ‹Die Lettern sind zersprengt und nur notdürftig wieder gesammelt. Es gibt keine Sprache mehr, […] sie muss erst wieder gefunden werden.›13 Auf der Leinwand wird die Figur fragmentiert oder aufgelöst, verliert sich in ihren Hintergrund und offenbart die Materialität des Bildes (Symbolismus, Impressionismus, Kubismus, Expressionismus). Die Plastik wird zur räumlichen Installation erweitert. Das Kunstobjekt löst sich in der Bewegung, in der Aktion, im Gesamtkunstwerk, in der Performance und im Happening auf.

Seinem in der Pariser Zeitung Le Figaro am 20.02.1909 veröffentlichten Manifest des Futurismus, in dem er die Geschwindigkeit und den Krieg preist, hat Marinetti eine Vorrede vorangestellt, in welcher er die Geschichte von einem Autowettrennen mit seinen Freunden erzählt. Dieses Wettrennen endet keineswegs mit einem Jubel über den technischen Fortschritt, wie er den Futuristen gern unterstellt wird, sondern mit einem Unfall: ‹Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin, nicht aus Verzweiflung, sondern um die tiefen Brunnen des Absurden zu füllen! Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als ich mich mit derselben tollen Trunkenheit der Hunde, die sich in den eigenen Schwanz beißen wollen, scharf um mich selbst drehte, und im gleichen Augenblick sah ich zwei Radfahrer auf mich zukommen, die mich ins Unrecht setzten und vor mir zauderten wie zwei Überlegungen, die beide überzeugend und trotzdem kontradiktorisch sind. Ihr dummes Dilemma spielte sich auf meinem Gelände ab … Wie dumm! Puh! … Ich bremste hart und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in einen Graben … Oh, mütterlicher Gaben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflussgraben einer Fabrik! Ich schlürfte gierig deinen stärkenden Schlamm, der mich an die heilige, schwarze Brust meiner sudanesischen Amme erinnerte … Als ich wie ein schmutziger, stinkender Lappen unter meinem auf dem Kopf stehenden Auto hervorkroch, fühlte ich die Freude wie ein glühendes Eisen erquickend mein Herz durchdringen. […] Alle glaubten, mein schöner Haifisch wäre tot, aber eine Liebkosung von mir genügte, um ihn wieder zu beleben […]. Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – diesem Gemisch aus Metallschlacke, nutzlosem Schweiß und himmlischem Ruß – zerbeult und mit verbundenen Augen, aber unerschrocken, diktierten wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde : […].›14 (Es folgt der Text des Manifests.)

Hugo Ball berichtet von der Aufführung eines Simultangedichts durch seine Freunde im Cabaret Voltaire, der Wiege des Dadaismus, im Jahr 1916: ‹Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem «Poème simultan» auf. Das ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen […]. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz. Das «Poème simultan» handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irr- fahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar ; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozess verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.›15

In Marinettis Autounfall wie im dadaistischen Sprachunfall vereinigt sich die individuelle menschliche Figur mit ihrer technisch-medialen Umgebung (Marinetti deutet sogar die erotische Vereinigung an). Der Mensch ist hier konsequent außer sich – eingetaucht in das, was die Kontrolle über seine Grenzen, was seinen intakten Körper, sein kohärentes Sprechen bedroht und zerstört: die Maschine, die Fabrik, der mechanische Prozess, der Lärm, kurz: das Unmenschliche. Beide Unfallszenen unterscheiden sich in einem entscheidenden Moment von einem gewöhnlichen Autounfall oder Sprachunfall: Der Unfall, das Scheitern, das Missgeschick, die gewaltsame Öffnung des Eigenen und seine Vermischung mit dem Außen, die Auflösung der individuellen menschlichen Figur im Unmenschlichen stoßen hier nicht bloß zu – sondern sie werden begrüßt, bejaht, übernommen. Diese Praxis der freiwilligen und expliziten Übernahme der Verantwortung für das, was man nicht zu verantworten hat, kann als Readymade-Praxis bezeichnet werden: Man übernimmt das, was man nicht gemacht hat, man bekennt sich zu dem, was man nicht ist. Bevor Duchamp dieser Praxis ihren Namen verliehen hat, wurde sie bereits von Künstlern und Philosophen angewandt: Wenn Hegel sagt, der Geist sei ein Knochen16, oder wenn Rimbaud verkündet, ‹Ich› sei ein anderer17, so geht es auch ihnen darum zu bekennen: Das – dieses Äußere, dieses Nicht-Ich – bin ich.

Diese auf den ersten Blick bescheiden anmutende Geste der Selbstentfremdung, der Entäußerung des Selbst ins Fremde stellt allerdings nichts weniger als einen revolutionären Akt dar – mit dem der Künstler die Machtverhältnisse umkehrt. Während der nach Sicherung bzw. Expansion des (individuellen) Eigenen strebende Mensch durch seine unfreiwillige Öffnung, seinen erzwungenen Anschluss an die technisch-mediale Umgebung permanent enteignet wird, gewinnt der Künstler sein Eigenes gerade durch sein Opfer des Eigenen, durch seine freiwillige Öffnung oder Selbstenteignung, durch seine demonstrative Vereinigung mit der Umgebung, dem Medium, dem Äußeren. Er ist ein ganzer, souveräner, autonomer Mensch, weil er das Unmenschliche einschließt. Er ist, indem er außer sich ist, immer noch bei sich – weil sein Eigenes das Äußere, Fremde, Unmenschliche, die technisch-mediale Umgebung explizit einschließt (es hat sozusagen sein individuelles Eigenes gegen ein ‹totales› Eigenes ausgetauscht). Damit verliert diese mediale Umgebung schlagartig ihre Dimension des Unkontrollierbaren oder Unbewussten. Indem er explizit und mit Mut zum Paradox Verantwortung übernimmt für das, was er strukturell nicht verantworten kann, gelingt es dem modernen Künstler das Unbewusste bewusst zu machen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, einen Überblick über das Ganze zu schaffen, seine begrenzte Perspektive eines gewöhnlichen Medienbenutzers gegen die unbegrenzte, totale Perspektive des ‹kaputten›, nicht funktionierenden, von Sinn und Inhalt entleerten, stillgelegten Mediums auszutauschen – eines Mediums, das sich selbst zeigt (einer Sprache, die sich zeigt, das heißt selbst spricht; eines Maschine, die sich zeigt, das heißt leer läuft oder still steht). Der strukturell bedingten Ohnmacht des gewöhnlichen Medienbenutzers, dem das Medium als Ganzes, gerade indem er es für eigene Zwecke instrumentalisiert, notwendigerweise verborgen bleibt, steht die Macht des Künstlers über das Medium gegenüber, das er als Ganzes freilegt und offenbart, indem er auf seine Instrumentalisierung für eigene Zwecke demonstrativ verzichtet. Die Perspektive des Künstlers ist die Perspektive des im Moment des freiwilligen Verzichts auf das Eigene eroberten Überblicks über das Ganze, des explizit gemachten Kontextes, des bewusst gemachten Unbewussten. Eine unbegrenzte Perspektive – unbegrenzt in Raum und Zeit. Zwar kann auch der Künstler kein positives, statisches Bild des Ganzen produzieren – aber er kann dieses Ganze mit seiner Performance der freiwilligen Selbstenteignung oder Selbstentäußerung verkörpern, darstellen, aufführen.

Wir haben es hier mit einer Dialektik der Zerstörung zu tun, die wie eine Ökonomie des Opfers (oder der Gabe) funktioniert: Der moderne Künstler opfert das Eigene – und gewinnt dafür das Ganze. Er verzichtet auf die Instrumentalisierung des Mediums – und gewinnt dafür Macht nicht nur über das ganze Medium, sondern auch über die anderen, die dieses Medium nutzen, die also Teile ihres Selbst in dieses Medium entäußert haben und somit in unbewusster und unkontrollierter Intimität mit diesem Medium leben. In diesem Sinne folgen die modernen Künstler Marx’ und Nietzsches Aufruf zur Revolution : Sie sehen die Welt aus der Perspektive des Null-Menschen, des Menschen ohne Eigentum, ohne eigene Interessen, ohne Eigenschaften – des Menschen, der nichts zu verlieren hat als seine Grenzen. Wer auf das Eigene verzichtet, macht sich allgemein, verkörpert das Ganze auch im Sinne der Gleichheit aller – einer Gleichheit, wie sie durch staatliche Zuteilung von Rechten oder Umverteilung von Gütern niemals zu erreichen ist (die immer nach dem Prinzip des ‹Teile und herrsche!› funktioniert), und wie sie nur durch freiwillige Selbstenteignung hergestellt werden kann.

Das künstlerische Werk der Zerstörung ist also eigentlich ein Werk der Rettung. Was zerstört wird, ist bloß die begrenzte Perspektive des nach Selbsterhaltung oder Selbstexpansion strebenden Individuums. Zerstört man diese Perspektive, dann zerstört man die Zerstörung, das heißt die Möglichkeit der Zerstörung. Wie gesagt: Die künstlerische Praxis der Zerstörung ist eine Readymade-Praxis. Der Künstler kommt nur der Zerstörung durch äußere, natürliche, gesellschaftliche, technisch-mediale Kräfte und Mächte (letztlich durch den Mangel an Zeit) zuvor. Er macht die Zerstörung, die ohnehin stattfindet, zu seinem eigenen Werk (er ist schneller als die Zeit). Dieses Werk der Zerstörung aber kann selbst nicht zerstört werden: Indem der Künstler freiwillig die Grenzen seines Selbst öffnet, kann er nicht mehr durch äußeren Zwang zerstört werden. Er wird unangreifbar. ‹Es gilt, unangreifbare Sätze zu schreiben›, notiert Hugo Ball. ‹Je besser der Satz, desto höher der Rang. Im Ausschalten der angreifbaren Syntax oder Assoziation bewährt sich die Summe dessen, was als Geschmack, Takt, Rhythmus und Weise den Stil und den Stolz eines Schriftstellers ausmacht.›18 Das avantgardistische, die Zerstörung begrüßende Kunstwerk ist nicht irgendeine mediale Extension des Körpers des Künstlers – es ist eine unangreifbare Extension, fähig, mittels freiwilliger Selbstenteignung und Selbstzerstörung19 über die natürlichen wie gesellschaftlichen und technologischen Kräfte der Zerstörung und der Enteignung zu triumphieren. Das die Zerstörung bejahende Kunstwerk ist die unzerstörbare Schutzhülle des Körpers des Künstlers, die nicht selten dessen Tod überdauert.

Kurz bevor bzw. während das nationalistische Projekt des Deutschen Kaiserreichs einen Weltkrieg entfesselte mit dem vergeblichen Ziel, dem chronischen Verlust des Eigenen Grenzen zu setzen, nur um wenig später zahlreiche Figuren der brutalen Vermischung des Eigenen mit dem Äußeren oder Fremden produziert zu haben (aus Materialschlachten zurückkehrende lebende Tote, Collagenkörper aus Mensch und Maschine oder Mensch und Prothese, ‹Bastard-›Kinder), verfolgten Künstler wie Marinetti oder Hugo Ball ihre Projekte der freiwilligen und demonstrativen Selbstenteignung und Selbstentfremdung – mit dem unbestreitbaren Erfolg, unangreifbare Werke geschaffen zu haben. Auch wenn das Geschäft beider die Zerstörung ist, unterscheiden sich Kunst und Krieg in der Strategie wie in der Konsequenz: Wer sich nicht freiwillig öffnet, wird geöffnet (Logik des Krieges)20. Wer sich freiwillig öffnet, wird unangreifbar, weil er nicht von außen geöffnet werden kann (Logik der Kunst).

So wird verständlich, warum Benjamin über den ‹destruktiven Charakter› sagt, der Anblick der Zerstörung verschaffe ihm ein ‹Schauspiel tiefster Harmonie›: Es ist die Ruhe desjenigen, der mittels Zerstörung die Zerstörung besiegt hat, und der sich unangreifbar, unsterblich gemacht hat – zumindest für einen Moment.

  • 1. Brief von Stéphane Mallarmé an Eugène Lefébure vom 27. Mai 1867, in: Stéphane Mallarmé: ‹Correspondance›, Hrsg. Henri Mondor, Jean- Pierre Richard, Lloyd James Austin, Paris, 1995, S.349.
  • 2. Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus (1909), in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: ‹Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente›, Hamburg, 1993, S.77.
  • 3. Kasimir Malevi: ‹Über das Museum› (1919), in: Boris Groys, Aage Hansen-Löve (Hrsg.): ‹Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde›, Frankfurt/Main, 2005, S.203 – 210.
  • 4. ‹L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers au poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasrad, tant qu’on peut, dans la foule.› André Breton: ‹Second manifeste du surréalisme› (1930), in: André Breton: ‹Manifestes du surréalisme›, Paris, 1985, S.74.
  • 5. Walter Benjamin: ‹Der destruktive Charakter› (1931), in: Walter Benjamin: ‹Illuminationen. Ausgewählte Schriften›, Frankfurt/Main, 1977, S.289 – 290.
  • 6. Walter Benjamin: ‹Über den Begriff der Geschichte› (1939/1940), in: Walter Benjamin: ‹Gesammelte Schriften Band I/2. Abhandlungen›, op. cit., S.697 f. Walter Benjamin: ‹Zur Kritik der Gewalt› (1920/1921), in: Walter Benjamin: ‹Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2›, Frankfurt/Main, 1988, S.42 – 66.
  • 7. Walter Benjamin: ‹Der destruktive Charakter› (1931), op. cit., S.289.
  • 8. Siehe dazu: Boris Groys: ‹Einführung in die Anti-Philosophie›, München, 2009, S.7ff.
  • 9. Marshall McLuhan: ‹Understanding Media. The Extensions of Man› (1964), op. cit., S.47.
  • 10. Von der Wissenschaft ist keine Überwindung der begrenzten Perspektive zu erwarten, im Gegenteil: Alle Projekte zur Herstellung einer unbegrenzten Perspektive werden von den Propagandisten der Wissenschaft (positivistischen Philosophen) für verrückt oder krank erklärt. Das Ziel von Wissenschaft und Technik ist vielmehr die Verbesserung der – begrenzten – Perspektive. Allerdings ist eine Verbesserung der Perspektive nur mit einer kontinuierlichen Spezialisierung der Perspektive zu erreichen – die eine immer weitere Verengung der Perspektive bedeutet. So vergrößert die Wissenschaft den Herrschaftsbereich des Schicksals, zu dessen Verkleinerung sie angetreten ist: Sie verspricht Macht (Unabhängigkeit) und schafft neue Ohnmacht (Abhängigkeit), sie verspricht Gesundheit und schafft neue Krankheit, sie verspricht Zeitersparnis und produziert neuen Zeitmangel, sie verspricht Ordnung und schafft neues Chaos, sie verspricht mehr Wissen und vergrößert den Bereich des Unwissens (wie Vertreter der Grundlagenforschung regelmäßig eingestehen). Dunkelheit, begrenztes Wissen, Zeitknappheit, Endlichkeit sind der ‹collateral damage›, das Nebenprodukt der Wissenschaft. Die Wissenschaft vermag also das Unbewusste nicht bewusst zu machen, im Gegenteil: Sie betreibt kontinuierlich die Erweiterung seines Herrschaftsbereichs.
  • 11. Siehe dazu: Donna Harraway, ‹Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s›, in: Socialist Review 80, 1985, S.65–108.
  • 12. Dabei tritt die nationalistische Reaktion stets in Momenten der ökonomischen Stagnation auf, in denen die Flüsse von Geld, Gütern und Personen ins Stocken geraten und damit den Blick auf die geöffneten und vermischten Körper freigeben, der in Zeiten des ökonomischen Wachstums zumeist verstellt ist.
  • 13. Hugo Ball, ‹Die Flucht aus der Zeit› (1927), Zürich, 1992, S.42.
  • 14. Filippo Tommaso Marinetti: ‹Manifest des Futurismus› (1909), in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: ‹Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente›, op. cit., S.76 – 77.
  • 15. Hugo Ball: ‹Die Flucht aus der Zeit› (1927), op. cit., S.87
  • 16. G.W.F. Hegel: ‹Phänomenologie des Geistes› (1807), Hamburg, 1988, S.230.
  • 17. Arthur Rimbaud: ‹Brief an Georges Izambard›, 13. Mai 1871, in: Arthur Rimbaud: ‹Sämtliche Werke›, Frankfurt/ Main, 1992, S.394.
  • 18. Hugo Ball: ‹Die Flucht aus der Zeit› (1927), op.cit, S.42.
  • 19. ‹Mit aller mir zu Gebote stehenden Leidenschaft bin ich bemüht, mir gewisse Wege und Möglichkeiten (so z.B. Karriere, Erfolg, eine bürgerliche Existenz u.dgl.) völlig und für alle Zeit zu verlegen. […] Von Zeit zu Zeit, wenn die verdächtige ‹Harmonie› meiner Natur sich durchringt, wittere ich Unrat und bin instinktiv bemüht, irgendeine Torheit, einen Fehltritt, einen Verstoß zu begehen, um mich vor mir selbst wieder herunterzubringen. Ich darf gewisse Talente und Fähigkeiten nicht aufkommen lassen. Mein höheres Gewissen, meine Einsicht verbieten mir das.› Hugo Ball: ‹Die Flucht aus der Zeit› (1927), op. cit., S.55
  • 20. Siehe dazu: Georges Bataille: ‹Der verfemte Teil› (1949), in: Georges Bataille: ‹Die Aufhebung der Ökonomie›, München, 2001, S.33 ff.