Unabhängigkeitstag

by Mimi Kunz


‹Vergiss nicht die Blumen zu kaufen›, sagt Martha, als sie in die Küche kommt.

‹Die Blumen?›, fragt Clyde mit demselben Blick, mit dem er vor zwanzig Jahren ‹Für immer?› gefragt hatte, nachdem sie ihm, in einer Nacht in seinem Auto im Regen, gesagt hatte, dass sie ihn liebte. ‹Ja!› hatte sie damals gelacht, das Fenster heruntergelassen und ihre Hand in den Regen gestreckt. Clyde sieht zu, wie sie sich Kaffee einschenkt. Als sie die Milch zurück in den Kühlschrank stellt, nimmt er die Einkaufsliste von der Tür, die mit einem Magnet darauf befestigt ist. Er trinkt den letzten Schluck Kaffee, stellt die Tasse in die Spüle, zieht seinen Mantel über das Jackett und pfeift, so, wie er immer pfeift, bevor er morgens das Haus verlässt. Seit fast zehn Jahren wohnen sie nun in Clydebank – Martha hatte sich in den Namen der Stadt verliebt und alles getan, um hier einen Job zu finden. Sie geht zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz, während Clyde jeden Morgen mit dem Auto zur Universität in Glasgow fährt. Auf dem kurzen Weg zu seinem Wagen nimmt er den Einkaufszettel aus der Tasche.

Guardian Wk
TimesLitSupp
Kartoffeln
Hering
Eier
Mehl
Birnen…

Birnen, nicht Blumen. Er lächelt. Sie hat auf diesen Tag gewartet.

‹Du bist Engländerin?›, hatte er sie gefragt, an einem Septembertag wie diesem, vor einundzwanzig Jahren, er, ein Student auf einer Party in Glasgow. ‹Noch›, hatte sie gesagt. ‹Ich habe die britische und die polnische Staatsbürgerschaft. Meine Eltern sind aus Lublin und ich bin in London geboren. Aber…› Er hatte sie angesehen und sich in sie verliebt, während sie ihm erzählte, dass sie die schottische Nationalität annehmen würde, sobald das Land seine Unabhängigkeit erreichte. ‹Ihr Nationaltier ist ein Einhorn›, hatte sie gesagt und es klang wie eine Erklärung. Er hatte sie geküsst. ‹Würdest du mit einem Iren schlafen?›

Sie war schwanger geworden, gleich in der ersten Nacht. Es hatte ihr nichts ausgemacht. ‹Wenn es ein Junge wird, heißt er Finn. Und wenn es ein Mädchen wird – wie findest du Rhona?›, hatte sie gefragt, während sie ihre Hemden seitlich aufgetrennte, um Platz für den wachsenden Bauch zu schaffen. Sie fragte nie: ‹Heiraten wir oder nicht?› ‹Bleibst du bei mir?› Sie trug seine Pullover. Er trug ihre Umzugskisten. Ihr Wesen faszinierte ihn und es schien kein Rolle zu spielen, was passieren würde, er wollte alles von ihr sehen.

Rhona wurde am 12. Juni 1994 geboren, an dem Tag, an dem die Sozialdemokraten die Europawahl und Labour sechs von Schottlands acht Plätzen im Europäischen Parlament gewannen. Jetzt ist sie zwanzig Jahre alt und ausgezogen, um zu studieren. Sie lebt in Dundee und hat gestern, wie sie alle,  über Schottlands Unabhängigkeit abgestimmt. Clyde fährt auf die A82 und schaltet das Radio an. In Dundee und Glasgow überwiegen die Stimmen der Separatisten, in fast allen anderen Gebieten haben sie verloren, wenn auch knapp; Schottland bleibt Teil des Vereinigten Königreichs.

Nach der Arbeit fährt Clyde zum Supermarkt. Er kauft Blumen, trotz allem, oder vielleicht gerade deswegen, und legt sie auf die Einkäufe in den Kofferraum des Autos. Es fängt an zu regnen. Clyde steigt ein, in Gedanken nach der passenden Musik für die Heimfahrt suchend. Phil Collins, denkt er und kramt die CD aus dem Handschuhfach. Ja. Clyde summt uh yeah I wish it would rain, rain down on me und zieht die CD aus der Hülle. Aber der Wagen springt nicht an. Clyde lehnt sich zurück und streckt die Hände über dem Lenkrad aus. Vier Tankstellen liegen je zwei Meilen entfernt, eine in jede Himmelsrichtung. Was für eine absurde Lage. Er wirft einen Blick durch die regenbenetzte Windschutzscheibe.

Eine junge Frau steigt in den Wagen, der dicht neben Clydes steht. ‹Nach Ihnen!›, mimt sie. Als er kopfschüttelnd die Hände hebt, öffnet sie das Fenster. Sie muss zum Flughafen und hat noch Zeit; seine Adresse liegt auf ihrem Weg. Mit der Einkaufstasche zwischen den Füßen lässt er sich auf den Beifahrersitz ihres Leihwagens sinken.

Martha beeilt sich nicht. Die Resignation, die das Wahlergebnis in ihr ausgelöst hat, verlangsamt ihre Handgriffe. Die Aufregung der letzten Tage weicht einer großen Müdigkeit. Es ist Freitag und die ganze Woche über war alles auf heute verschoben worden. Der Freitag wäre ein Feiertag, dachte sie,  und als zukünftige Schottin würden ihr neue Kräfte zuteil. Natürlich kann sie es diese Woche schaffen, ja, Schottland wird unabhängig und Glasgow die Metropole eines von Labour regiertes Landes – atomwaffenfrei, der EU zugewandt, NATO-Mitglied, friedlich, sozial… Selbstverständlich, kein Problem. Aber es hat keinen Sinn. Es ist nicht passiert und sie kann sich nicht konzentrieren. Martha packt ihre Sachen. Sie wird sich heute Abend nochmal an die Arbeit machen, nach dem Essen. Sie könnte ihren Birnenkuchen schon heute backen und morgen früh in aller Ruhe arbeiten. Sie wird Clyde beim Kochen zur Hand gehen, ein Glas Wein trinkend, eine Platte auflegen…

Musik spielt, als Martha nach Hause kommt. Auf dem Küchentisch steht eine große Einkaufstasche, obenauf liegt ein Strauß Dahlien. Martha lächelt, füllt eine Vase mit Wasser und schneidet die Stilenden der Blumen ab. Summend zieht sie ihre Schuhe aus. Vielleicht nimmt Clyde ein Bad. Martha geht die Treppe nach oben, knöpft ihre Jacke auf, hängt sie über das Geländer und zieht die Spange aus ihrem Haar. Auf der obersten Treppenstufe bleibt sie stehen. Das Badezimmer ist leer. Auch die Tür zu Rhonas altem Kinderzimmer, das sie in ein Arbeitszimmer verwandelt haben, steht offen und auch dort ist niemand. Martha sieht sich ihre Unterlagen auf dem großen Tisch ausbreiten und schüttelt den Kopf. Später – jetzt nicht. Die Schlafzimmertür ist geschlossen. Clyde ruht sich aus, vielleicht ist er eingeschlafen. Sie wird ihn wecken, wenn sie den Salat geputzt hat. Mit dem Gedanken, sich einen Drink zu genehmigen, dreht sie sich um. Martha steht mit einem Fuß in der Luft, als sie Clyde hört und die Stimme, die sein Stöhnen beantwortet. Sie zieht den Fuß zurück auf die Treppenstufe. Die Laute tanzen um sie herum und dringen in sie ein, unaufhaltsam, wie auf Blitze folgender Donner.

Martha geht leise die Treppe hinunter, zurück in Richtung der Musik, die aus dem Wohnzimmer, durch die Küche in den Flur klingt. Sie öffnet eine Schublade im Garderobenschrank und zieht, bedacht darauf, keinen Lärm zu verursachen, einen Schuhkarton heraus. Darin sind Batterien, ein Reisewecker, Kerzenständer und anderer Kleinkram, der nie gebraucht oder weggeschmissen wurde. Martha fischt den Schlafzimmerschlüssel aus einem Marmeladenglas, verstaut den Karton wieder im Schrank und schleicht die Treppe zurück nach oben.

Clyde steht auf und fährt sich mit der Hand durch die Haare und über das Gesicht. Die Fahrerin räkelt sich. Er sieht sie an. Sie setzt sich auf und leckt die letzten Spermatropfen von seinem erröteten Glied. ‹Wann kommt deine Frau?› ‹Um acht.› Er lauscht, verzieht das Gesicht, spürt, wie sein Penis wieder steif wird und wehrt sich einen Moment lang gegen die aufkommende Lust. Ihre Scheide ist nass. Sie sitzt auf ihm; ihre schweren Brüste streifen seine Haut, als sie sich über ihn beugt.

Martha atmet tief ein. Sie steht wieder im Flur, unschlüssig, und presst eine Hand vor ihren Mund, so, als würde sie einen Schrei zurückhalten. Sie sieht sich um. Als sie in die Küche geht, um ihre Handtasche zu holen, fällt ihr Blick auf eine zweite Tasche, die im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt. Ein Autoschlüssel liegt daneben, wie hingeworfen… Sie hatten es eilig. Ohne zu trinken sind sie aufeinander zugegangen, haben sich geküsst und er hat sie, ohne ein Wort, nach oben geführt. Er hat sich in sie geschoben und sie hat ihn berührt, zum ersten Mal, und sich aufgebäumt vor Lust, die Hände in seinem Haar…

Martha verlässt das Haus und geht die Straße entlang. Sie richtet den fremden Autoschlüssel auf jeden  am Straßenrand geparkten Wagen, bis ihr ein Blinken zeigt, welches das Auto der anderen ist: Ein senffarbener Ford Focus. Martha lässt ihre Handtasche auf den Beifahrersitz fallen, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und schaltet die Scheinwerfer ein.

Draußen wird es dunkel. Nachdem er zum zweiten Mal in ihr gekommen ist, rollt sich Clyde von der Fahrerin. ‹Du solltest besser…›
‹Ja.› Sie lächelt. ‹Wo ist…?›
‹Die erste links.› Sie steht auf, nackt und nass geschwitzt, und geht zur Tür. ‹Du bist aber vorsichtig.›
‹Was?›
‹Wo ist der Schlüssel?›
‹Keine Ahnung. Wir schließen nie ab.›
‹Aber die Tür ist zu!› Sie sieht ihn vorwurfsvoll an. ‹Das ist nicht witzig. Mein Flug wartet nicht auf mich.›
Clyde hebt die Hände und schüttelt den Kopf.

Er schüttelt den Kopf, ohne die Frau oder das Zimmer zu sehen. Er hustet, lacht, steht auf und beugt sich aus dem Fenster in die Abenddämmerung. Fast hätte er geweint.