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Manifesta 10
Sankt Petersburg, 28. Juni - 31. Oktober 2014
veröff. 09.09.2014 von Johanna Ziebritzki
 

Medienbilder und mediengeprägte Bilder

Das Begriffspaar Russland und zeitgenössische Kunst lässt an Bilder und Schlagzeilen von Zensur und Unterdrückung denken: An Pussy Riots Punk Prayer (02/2012), an die kurz darauf folgenden Verhaftungen und an die Begnadigungen, die oft als eine Demonstration Putins Willkürherrschaft verstanden wird. Man denkt an die immer umfassender werdenden Gesetze zur Unterbindung freier Meinungsäußerung – und damit freien künstlerischen Ausdrucks.1

Das Jüngste unterstellt Blogs mit mehr als 3.000 LeserInnen am Tag staatlicher Kontrolle.2 Man denkt an das Gesetz gegen „Propaganda von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen“.3 Man denkt an die hochästhetischen Bilder vom Maidan und an die Annexion der Krim im Frühjahr 2014.


        Boris Mikhailov: The Theater of War (utsnitt), 2014. Courtesy: Kunstkritikk.4

Über Voina-Mitglied Oleg Vorotnikov liest man, dass er im Zuge der Krim-Annexion seinen Nationalstolz entdeckt hat. Da die Gruppe Voina, die für ihre politischen Performances bekannt ist, sich als „left-wing radical anarchist collective“5 versteht, überrascht Vorotnikovs Aussage. Aufgrund all dieser Nachrichten merkt man, wie eng in einer bestimmten russischen Szene Kunst und Politik beieinander liegen. Dass diese Kunst uns WestlerInnen oft vor große Fragen stellt, liegt an den nicht zu unterschätzenden kulturellen, sozialen und politischen Unterschieden, den unterschiedlich geprägten Wertsystemen und der immer subjektiven Geschichtsschreibung. 
 

Die Manifesta 10 zu Gast in Russlands Staatsmuseum 

Die Manifesta 10 ist eine wandernde Biennale, die sich Europas Vielfalt mit dem Schwerpunkt auf der Ost-West Beziehung zum Thema gemacht hat. Sie begeht in diesem Sommer 2014 ihr 20-jähriges Jubiläum als Gast der Eremitage in Sankt Petersburg. Sie ist umzingelt von den politischen Ereignissen jüngster Zeit. Im Vorfeld gab es mehrheitlich westliche Stimmen, die eine aktive Einmischung der Manifesta in die Politik forderten. Auch gab es einen Aufruf zum Boykott, der den Menschenrechtsverletzungen gegenüber LGBT-Leuten entsprang.6 Viele eingeladene russische sowie europäische KünstlerInnen und KuratorInnen folgten diesem Boykott-Aufruf, so auch das Sankt Petersburger Kollektiv Что Делать (ru.: Chto Delat?, engl.:What is to be done?). Piotrovsky, der Direktor der Eremitage versteht Kunst hingegen als Brücke zwischen Kulturen, die verstärkt dann zum Tragen komme, wenn alle anderen Brücken einstürzen. Daher müssten “wir, die Kulturschaffenden […] auf jeden Fall unsere Brücke freihalten vom politischen Einfluss: Es geht uns um die sehr wichtige Frage der Unantastbarkeit der Kunst. […] Es läuft da ein weltpolitisches Spiel, und es ist nicht Aufgabe der Kultur, dazu ja oder nein zu sagen.”7 Warsza, die kuratorische Leiterin des Public Programm, sieht die Problematik wiederum differenzierter: “We are confronted with the old political dilemma: engagement or disengagement? As much as we of course clearly and without doubt oppose the Russian military intervention in Crimea and the position of the Russian government, we also oppose the tone of westocentric superiority.”8 Und Kasper König, der hauptverantwortliche Kurator? Er scheint sich damit abzumühen, alle Interessen zu berücksichtigen. So führte der Boykott-Aufruf zu einer Solidaritätserklärung, dernach alle Beteiligten ihre Teilnahme zurückzögen, wenn eine Person vom Staat zensiert werde. Königs Aufgabe alle Parteien unter einen Hut zu bringen, ist eine schwierige Aufgabe: “Die prekäre politische Situation im Moment führt zu einer Verhärtung der Art, dass die Leute tun, als wäre nichts. Einerseits muss alles vorher klipp und klar gemacht werden, wenn es an die Umsetzung geht, sind aber alle Absprachen plötzlich hinfällig. Fallen und Intrigen kann ich nicht wirklich durchschauen. Oder ich glaube, welche zu erleben, aber in Wirklichkeit ist es Indifferenz. Das sind alles nachsowjetische Eigenheiten, wo man nie weiß, ist das jetzt Ignoranz oder Kontrolle. Dieses System beschädigt die Seele.”9

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Im Vorfeld der Eröffnung lag der Schwerpunkt der deutschen Berichterstattung auf den Fragen, ob die Manifesta überhaupt stattfinden kann oder ob sie gänzlich boykottiert wird, was der juristische und moralische russische Rahmen für die Manifesta bedeutet und wie die AkteurInnen zu der repressiver Gesetzgebung stehen. Selbst König hat vier Wochen vor der Eröffnung am 28. Juni 2014 das Eingeständnis gemacht, dass auch er nicht wisse, wie und ob es mit der Planung weitergehe. Nur allzu gut passen die Bilder des Manifesta-Boykottes und eines zutiefst verunsicherten Kurators in die Reihe der mit Russland und zeitgenössischer Kunst assoziierten Medienbilder. Doch was lässt sich über die Manifesta 10 als Ausstellung sagen? Finden sich politische und rechtliche Themen in der Ausstellung wieder? Wie wird mit dem russischen Kontext umgegangen? Wie mit der Eremitage als Gastgeber? Kurz: Was ist diese Manifesta, von der so viele Parteien so Unterschiedliches erhofften und verlangten?  

              
        Schlossplatz in Sankt Petersburg mit Winterpalast und General Staff Building.11

Seit 1996 die Manifesta gegründet wurde, ist das Selbstverständnis der Biennale, dass sie fernab der europäischen Kunstzentren und des Blockbuster-Business an wechselnden Orten stattfindet. Dieses Jahr ist die Manifesta 10 in dem wichtigsten russischen Museum, dem ehemaligen Winterpalast Peter des Großen zu Gast, der heute als russisches Staatsmuseum die Sammlung Katharina der Großen beherbergt. Diese Entscheidung fiel, als es das Gesetz gegen “homosexuelle Propaganda” noch nicht gab und die Krim noch ukrainisch war. Das 20-jährige Jubiläum der Manifesta fällt mit dem 250-jährigen Jubiläum der Eremitage zusammen. Zudem wird mit der Manifesta 10  der neu umgebaute und renovierte Westflügel des General Staff Buildings als Neuzuwachs der Eremitage eingeweiht, der in Zukunft die Werke des 19. bis 21. Jahrhunderts beherbergen wird. Hat die Manifesta 10 sich mit der Eremitage als Gastgeber selbst eine Bein gestellt? Viel spricht dafür: unter anderem, dass die Finanzierung, die bisher bei der EU lag, nun von der Eremitage übernommen wird und dass es scheint, die Manifesta ließe sich als Prestigeprojekt ebendieser ausnutzen. Der Anspruch junge Kunst in entlegenen Orten zu fördern wich einer Ausstellung bekannter, zum Großteil auch gesicherter Positionen.12

Die Manifesta 10 gliedert sich hierarchisch in vier Teile: Die Exhibition, die zu 2/3 im General Staff Building und zu 1/3 im Winterpalast der Eremitage untergebracht ist, bildet das Zentrum. Daneben gibt es ein Public Program, von der bereits zitierten Polin Joanna Warsaw kuratiert, das vor allem Performances und Talks im weiteren Stadtraum beinhaltet. Zum Dritten gibt es ein Educational Program, ein Vermittlungsprogramm, das die westliche Idee der Kunstvermittlung in Sankt Petersburg anzuwenden versucht und zum Vierten gibt es das Parallel Program, das nicht direkt zur Manifesta gehört, sondern diejenigen Institutionen unter seinem Schirm versammelt, deren Ausstellungen thematisch an die Manifesta anknüpfen.  
 

Die Manifesta in Sankt Petersburg – ein Erfahrungsbericht 

Sankt Petersburg ist überdimensioniert. Als Erstes fallen mir die riesigen repräsentativen Bauten auf als ich mit dem Bus zur Eremitage fahre. Im Stadtbild hat die Manifesta jedoch überhaupt keine Präsenz. Es gibt keine Plakate, keine ins Auge fallenden Kunstwerke im öffentlichen Raum. Nichts. Auf dem Schlossplatz vor der gigantischen Eremitage stehend, ist immer noch nichts von der Manifesta 10 zu sehen. Ich habe erwartet, von dem Manifesta-Orange begrüßt zu werden, dass es vielleicht einen Informationsstand und ein orangefarbenes Café gibt – ich habe dieselbe Infrastruktur erwartet, die man von der Venedig Biennale oder der Documenta kennt, also von den zwei Großereignissen, mit denen sich die Manifesta gerne in einem Satz nennt. Doch vor mir steht wie eh und je die helltürkis-strahlende Eremitage. Mich befällt die Ahnung, dass es hier weitaus Bedeutenderes als die Manifesta gibt. 

              Eremitage – das russische Staatsmuseum.13

Erst als ich der Eremitage den Rücken zuwende, sehe ich an dem Gebäude gegenüber der Eremitage, dem Westflügel des General Staff Buildings, ein orangenes Tuch auf einem Balkon liegen, von dem es wahrscheinlich als Banner hängen sollte.   

Den neu renovierten Westflügel betretend, befinde ich mich eindeutig im Museumsraum. Ich könnte überall sein. Beim Betreten der Ausstellung fällt auf, wie leer es ist. 

An der Kasse habe ich keinen Raumplan erhalten, gehe also im Foyer des General Staff Buildings zu dem einzigen Manifesta Infostand, den es in ganz Sankt Petersburg zu geben scheint und frage nach. Eine sehr hilfsbereite junge Dame beginnt, alle Werke die in der Eremitage sind, von Hand in den üblichen Eremitageplan einzutragen und entschuldigt sich mit einem Lächeln dafür, dass hier alles etwas ungeordnet sei. 
 

Die Ausstellung im General Staff Building 

Die majestätische Treppe hinaufsteigend fällt eine monochrom-hellgrüne, quadratische Fläche auf. Ihr Beschreibungstext erklärt, dass es sich um eine im Auftrag der Manifesta entstandene Arbeit von Olivier Mosset (Untitled, 2014) handelt, der sich mit der Farbe als Readymade auseinandersetze: “The painter took inspiration from early abstraction, which systematically put the emphasis on primary colors by avoiding contrasts, thus endowing the color relationship with a formalism devoid of all naturalness.”14 Na herrlich. Eine Ausstellung, die als Aufmacher ein Werk zeigt, dass sich auf eine nicht sonderlich raffinierte Weise mit der Kunstgeschichte auseinandersetzt. Die letzten Erwartungen und Hoffnungen, dass die Ausstellung selbst in das Wirrwarr aus medienbasiertem Halbwissen, Gehörtem und Vorurteilen über ebendiese Ausstellung und den Kontext in dem sie steht, etwas Ordnung und Klarheit bringe, schwinden nun.

         Olivier Mosset: Untitled, 2014. Acrylic on canvas. Each: 300 × 300 cm. Courtesy  Galerie Andrea Caratsch, Zurich, Switzerland; Campoli Presti, London, England.15

        Pussy Riot. 16

In den folgenden Räumen ändert sich an dem Eindruck, eine brav dem Kanon folgende Ausstellung zu sehen, kaum etwas: Die Manifesta 10 ist eine klassische Museums-Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die großen Namen sind dabei, Marlene Dumas, Wolfgang Tillmans, Francis Alys, Oleg Kulik, Bruce Nauman, Rineke Dijkstra, Maria Lassnig, Vladislav-Mamyshev Monroe und noch mehr bunte Quadrate von Mosset. Diese Blockbuster-Show kann doch nicht alles sein?  

Die Werke, die sich politische gebärden, scheinen platt und brav. Man findet den Bezug auf die Unterdrückung der freien sexuellen Orientierung, auf Pussy Riot, auf Sochi und die Krim-Annexion. Fast alle KünstlerInnen haben neue Arbeiten im Auftrag der Manifesta realisiert. Alles potentiell Brisante scheint freundlich abgedeckt. Die Manifesta ist gegen den Vorwurf, apolitisch zu sein, abgesichert. Dass diese White-Cube Ausstellung die Haupt-Ausstellung der Manifesta 10 sein soll, verwirrt. Sie hatte doch mal einen anderen Anspruch. So konform und nett – das kann schlichtweg nicht alles sein. 

  
        Marlene Dumas: Great Men, 2014, 16 Zeichnungen. (Jede Zeichnung ist das Portait eines Homosexuellen mit kurzer Beschreibung.)17
 

Die Ausstellung im Winterpalast 

Auf der dringlicher werdenden Suche nach dem Schlüssel zum Verständnis der Manifesta 10 betrete ich den Winterpalast. Joseph Beuys, Louise Bourgeoise, Gerhard Richter und 12 weitere etablierte KünstlerInnen sind mit ikonischen Arbeiten in der ständigen Sammlung zwischen den Alten Meistern platziert. Alle Arbeiten der Manifesta sind klar als “contemporary” gekennzeichnet. Zudem ist der Akt (Ema, Akt auf einer Treppe, 1966) von Richter sowie alle anderen Manifesta-Arbeiten, auf denen Genitalien zu sehen sind, wie entfremdet oder verwischt auch immer, mit einem “16+” Schild versehen. Dahingegen werde ich vor vielen Werken der Sammlung von entblößten Brüsten lasziv lächelnder Damen geradezu aufgefordert, näher zu treten. Ich frage mich, ob Russland tatsächlich so prüde ist, wie es sich hier gibt. Die neuen Werke unterliegen offensichtlich viel strengeren Kontrollen, als die der Sammlung.  

Wegen der Manifesta bin ich in dieses Land gekommen und nun in das Staatsmuseum gegangen. Und viel mehr als von der Manifesta sehe und lerne ich vom Land und nun von den Leuten und Werken im Staatsmuseum. Es sind die kleinen Gesten, die mir den fremden Kontext näher bringen: der junge Mann, der im Vorbeigehen auf der Straße jeder Büste eines Heroen und Landesvaters einen kurzen Moment aufmerksamer Anerkennung schenkt und mir den Namen laut vorliest. Die Tradition, die Vorfahren haben hier das Große geleistet und werden dafür in Ehren gehalten. Es gab schon lange keinen Vatermörder mehr, der breite Unterstützung in der Bevölkerung gefunden hat. Man muss sich dessen bewusst sein, dass man sich außerhalb des Gebietes befindet, das unter Duchamps und Warhols, Foucaults und Butlers unwillkürlichem Einfluss steht. 


        Hinweis zu den Bildern von Marlene Dumas. Courtesy: Johanna Ziebritzki.

Public Program und Educational Program 

Als ich nachschauen will, wo der Treffpunkt für den Acoustic Walk Remote Petersburg von Rimini Protokoll liegt, stelle ich verwundert fest, dass man eine Karte braucht. Den “Buy Ticket”-Button gab es zwei Wochen zuvor noch nicht – und auch keinen Hinweis darauf, dass er noch kommen würde. Also kein Spaziergang durch Sankt Petersburg mit Rimini Protokoll.  

Die Website der Manifesta 10 ist im Ganzen schlecht strukturiert und schwer zu navigieren. Informationen scheinen versteckt, das Programm nicht klar dargelegt, das Unternehmen “Manifesta 10 in Sankt Petersburg” nirgends ausführlich erklärt. Viele der auf Englisch beschriebenen Links führen auf russische Seiten.18

Die Vitebsky-Station, der zentrale Bahnhof Sankt Petersburgs, der die Stadt mit Moskau sowie den umliegenden Ländern verbindet, überrascht durch ihre geringe Größe und erfrischend sanfte Verspieltheit. Ich freue mich über die Entdeckung dieser architektonischen Sonderheit des Jugendstiles – bin aber ursprünglich hergekommen, weil in der Wartehalle Videos laufen sollen. Der große graue Klotz entpuppt sich durch einen kleinen weißen Manifesta-Aufkleber an seiner Seite als nicht angeschalteter Screen. Also keine Filme. 

Der russische Kontext in dem die Manifesta 10 steht, ist ein gänzlich anderer, als der westeuropäische. Mir fehlt es an Wissen und Kenntnis des Kontexts, um diese Manifesta zu begreifen. Die kritischen Stimmen in mir verstummen. Alles, was ich jetzt noch sehen kann, sind die Werke und ihre Präsentation. Der politische, historische, rechtliche und soziale Kontext ist zu undurchschaubar, um die Manifesta 10 als langweile Blockbuster-Show zu verurteilen, wie ich es tun würde, wäre ebendiese Ausstellung in Berlin zu sehen. “Wie sind die Maßstäbe auszuweisen, die es dem Kritiker erlauben, eine gegebene Situation als falsch, schlecht, unangemessen oder defizitär zu kritisieren ?”19

Der Eindruck, dass das Gesehene und Verpasste schlichtweg nicht alles sein kann, festigt sich. Aus dem Halbwissen und den sich häufenden Fragen nährt sich das Gefühl, dass es noch mehr geben muss, wenn nicht mehr Präsenz oder Programm dann wenigstens noch mehr Ebenen. 


        Katharina Fritsch: Woman with Dog, 2014.20
 

Einfach eine Ausstellung

Die Manifesta 10 ist kein politischer Protest. Die Manifesta ist nicht der Deckmantel für eine aufbegehrende Masse. Die Manifesta ist nicht der Anlass, sich offen und laut gegen staatliche Zensur und Gewalt aufzulehnen. Nein, die Manifesta ist einfach eine Kunstausstellung zeitgenössischer Kunst in Sankt Petersburg. Piotrovsky hat sich offenbar durchgesetzt. Die ausgewählte zeitgenössische Kunst scheint ganz der ruhig reflektierende Gegenpol zu den brisanten Ereignissen der außermusealen Welt zu sein, den er sich vorgestellt hat. Kunstwerke mit politischem Inhalt werden dabei nicht ausgesperrt, solange sie ruhig reflektierend sind. Die Manifesta will keine Propaganda-Aktion sein – weder für die Obrigkeitshörigen noch für die Regimegegner. “Instead it will attempt to maintain a neutral space for dialogue”, wie ‘Chto Delat?’ in einer Stellungnahme Ende August 2013 kritisierend anmerkt. Dass es eine neutrale Position in solch einer politische Lage geben kann, zweifeln sie zu recht an: “There is no such thing as a neutral space for discussion in Russia today – you are either on the side of the repressive conservative ideology machine, of cheap entertainment and mind-wasting of the creative class, or you are fighting to develop a viable alternative to all of this.”21 Mit Chto Delat? gesprochen, hat die Manifesta 10 sich auf die Seite der Ideologie-Maschinerie ziehen lassen, schon alleine dadurch, dass sie sich deren Bedingungen unterstellt.   


        Gerhard Richter: Ema (Akt auf einer Treppe), 1966.22

Doch das Gesehene kann sich doch nicht darin erschöpfen, brave Kunst zu sein. Bei jedem für meine Augen noch so unkritischen Kunstwerk frage ich mich, wie kompliziert es war, es ausstellen zu können. Und immer wieder stelle ich fest: Ich kann es nicht einschätzen. 

Ich weiß nur durch Zufall, dass die Manifesta 10 tatsächlich weitere Ebenen unter der Offensichtlichen hat. Die langweiligen, selbstbezüglichen, monochromen Quadrate von Olivier Mosset sind in den Farben der Sturmhauben von Pussy Riot gemalt. Das habe ich in einem Gespräch zwei Wochen nach dem Besuch der Manifesta erfahren, von einer Kommilitonin die mit einem der beiteiligten Künstler bei der Eröffnung der Manifesta war. Dieser Bezug wertet weder die Arbeit noch die Ausstellung automatisch auf. Er verändert lediglich die Aussage der Bilder. Doch was bringt das den BesucherInnen, die diesen Bezug nicht sehen? Was bringt die versteckte politische Botschaft, wenn sie so gut versteckt ist, dass man sie nur durch Zufall finden kann? Und was ist überhaupt die Botschaft? Eine Hommage an Pussy Riot? Geheim, da es immer noch gefährlich ist, sich offen zu der Gruppe zu bekennen? Was ist die Botschaft des Kurators, der das Wissen um diese Hommage nirgends mitteilt? Wäre auch das gefährlich? Was haben wir BesucherInnen der Ausstellung, von so vielen unausgesprochenen Geheimnissen, die sich zwar erahnen lassen, die förmlich in der Luft liegen, die aber geheim bleiben (müssen)?  

Erzähl mir eine Geschichte

Und letztendlich verstehe ich, dass es um das Geschichtenerzählen geht. Es geht darum, dass jemand mir erzählt, dass dies die Pussy Riot Farben sind; dass die russische Kultur eine der Erinnerung und nicht des Aufbruchs ist; dass es in Russland keine Skulpturen, sondern nur Denkmäler gibt. Die kleinen Geschichten sind es letztlich, die ein Verständnis für das Land und die Manifesta 10 in diesem Land aufkeimen lassen. Doch im Programm der Manifesta 10 ist das eminent wichtige Geschichtenerzählen nicht verankert. Und gerade das würde die Manifesta offener und für mich als angereiste Westlerin wesentlich interessanter machen. Das heißt nicht, dass auf einmal alles nachvollziehbar wird. Die Konfusion würde vielleicht steigen. Aber das Ohnmachtsgefühl würde schwinden. Es geht um Geschichten, wie die des linksradikalen Anarchisten, der im Zuge der Krim-Annexion seinen Nationalstolz entdeckte und die der langen Tradition von Ausstellungen in Wohnungen, weil die offiziellen Kunst-Orte schon immer mit den Alten Meistern besetzt waren und die zeitgenössische Kunst schon immer außerhalb dieser offiziellen Stätten stattgefunden hat. Wie könnte es da mit der Manifesta 10 anders sein? Dass die Manifesta 10 als Gast der Eremitage letztlich eine konforme Ausstellung ist, die „Meister“ zeigt, sollte nicht überraschen. Tut es aber trotzdem, da die Erwartungen, dass es anders sein würde – politischer, präsenter, tatsächlich verändernd – im Vorfeld von der westlichen Presse geschürt wurden. Die Manifesta 10 ist eine großgewordenen europäische Biennale, die sich zu ihrem 20-jährigen Jubiläum, lässt man den russischen Kontext für einen Moment außer Acht, niedergelassen hat und die Nähe sowie das Geld der großen Institute sucht. “The main objective of MANIFESTA 10 is to introduce contemporary art, with all its complexity and criticality, to the State Hermitage Museum. […] Now Manifesta will look back and take stock.”23 Mit der Manifesta 10 hat die einst innovative Biennale den Weg der eigenen Historisierung begonnen und wird ihn in zwei Jahren in Zürich fortsetzten. Die Manifesta hat ihr Grundkonzept verändert und sollte, anstatt so zu tun, als ob es ihr noch um junge Kunst mit dem Schwerpunkt auf der Ost-West Beziehung ginge, ehrlich mit dem eigenen Altern umgehen. Sieht man die Manifesta 10 vor diesem Hintergrund, lösen sich viele der Unklarheiten: Würde mit dem Prozess der eigenen Historisierung offen umgegangen, anstatt an den Gründungsideen festzuklammern, wäre die Erwartung gar nicht erst entstanden, tatsächlich Zeitgenössisches, tatsächlich Neues zu sehen zu bekommen.