Gioni und sein enzyklopädischer Palast

55. Biennale Venedig
Oktober 2013 
von Johanna Ziebritzki

1. Gioni und Auriti
Wir Menschen versuchen uns unser Sein und Tun auf der Erde zu erklären, das ist belegt, seit wir bildnerisch und schriftlich ebendieses kommentieren. Eine Möglichkeit, sich etwas zu erklären, besteht darin, sich einen Überblick zu verschaffen. Und den erlangt man am besten dadurch, dass man aufräumt. Einer dieser Ordnungsversuche des Menschen hat als Enzyklopädie schriftlichen Niederschlag gefunden. Enzyklopädien sind umfassende Nachschlagwerke, in denen allgemeines Wissen zusammengefasst dargelegt ist. Sie sind ein Medium, das wir nutzen, um zu sortieren sowie nachzuschlagen.

Enzyklopädisches Denken und Sammeln kann als der Versuch verstanden werden, auf Fragen und Unklarheiten, die dem Menschen im Angesicht seines Lebens begegnen, zu reagieren. Die Kriterien nach denen dabei geordnet wird, können sehr unterschiedliche sein. Manche sind von der Mehrzahl der Menschen als richtig und wahrheitsstiftend anerkannt, so zum Beispiel: Die Ordnung der Tiere in a) Wirbellose Tiere und b) Wirbeltiere,1 andere werden von dieser Mehrzahl als falsch, seltsam oder verwirrt aufgefasst, so zum Beispiel: Die Ordnung der Tiere in a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte Tiere, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde… .2 Manchmal wird die Welt so verstanden und verarbeitet, dass dabei eine neue entsteht, die ihren je eigenen Ordnungsprinzipien folgt, die für uns aber unverständlich bleiben. Manche Menschen meinen auch mit ihrem Ordnungssystem das absolute Wissen der Menschheit einzufangen.  

Marino Auriti ist einer der Enzyklopädisten mit Absolutheitsanspruch. Ein Outsider, wie die Nicht-KünstlerInnen auch von den Insidern genannt werden. Sein Modell eines enzyklopädischen Palastes bildet in den Arsenalen in Venedig den Auftakt zu Gionis Ausstellung auf der 55. Biennale. Auriti wollte einen palastartigen Turm bauen, in dem das gesammelte Wissen der Menschen untergebracht werden sollte. Das Modell des Turmes ist nun zu sehen. Natürlich musste die Realisation des Vorhabens scheitern, nur die wenigsten Utopien schaffen den Schritt in die Wirklichkeit. Bei Auriti liegt das womöglich daran, dass der Palast, der das Wissen der Welt hält, mit den Flaggen von vier Nationen gekennzeichnet ist und der Bau so aussieht, als ob die Turmbauer von Babel wieder auferstanden sind und einen Kurs im neoklassizistischen Bauen belegt haben. Das Modell des enzyklopädischen Palastes, dem Gioni den Namen seiner Ausstellung entliehen hat, führt uns die Unmöglichkeit vor Augen, das absolute Wissen zu greifen, ebenso wie den nicht versiegenden menschlichen Drang, es dennoch anzustreben. „After all, the biennale model itself is based on the impossible desire to concentrate the infinite worlds of contemporary art in a single place: a task that now seems as dizzyingly absurd as Auriti‘s dream.“3 Gionis Palazzo Enciclopedico darf demnach nicht als Versuch gesehen werden, das absolute Wissen über die aktuelle Kunstwelt in sich zu fassen. Absurder denn je scheint heute die Idee, an einem gegebenen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Ausstellung zu machen, die einem Absolutheitsanspruch genügen soll. Dass Gioni eben das versuche, ist ein Schluss, der sich über den Titel „Il Palazzo Enciclopedico“ ziehen lässt, der jedoch mit Gionis Intention abgeglichen ein Fehlschluss ist. Denn jedes Werk, auch jede Zusammenfassung von Werken in einer Ausstellung, bleibt ein Ausschnitt dessen, was noch alles hätte ausgestellt werden können. Dieses Fragment des möglichen Ausstellbaren ist nicht willkürlich herausgegriffen und beleuchtet. Es ist die Auswahl desjenigen, was der Kurator unter dem von ihm gewählten Thema des Enzyklopädischen für Sehenswert hält. Gionis Palazzo gibt weit mehr als nur einen Einblick in Dinge und Kunst unserer Zeit. Die Frage danach, welche Ebene bei einer Ausstellung wie der Biennale eigentlich im Lichtkegel steht, stellt sich: Sind es die Werke, die Personen, die sie geschaffen haben, oder ist es der Kurator? Wir bekommen eine Ahnung davon, wie stark die Stellung des Kurators ist, sowie einen Einblick in die Kunstwelt und das komplexe Zusammenspiel ihrer verschiedenen AkteurInnen. Die Frage, wessen Werk wir auf der 55. Biennale zu sehen bekommen, stellt sich. Ob wohl die AusstellungsmacherInnen die KünstlerInnen beerbt haben, uns nun die Ersteren etwas über das Leben erzählen und die Letzteren dabei als Anschauungsmaterial dienen? Gioni stellt sich mit dem Palazzo Enciclopedico in die Tradition der kunstgeschichtsschreibenden KuratorInnen.  

2. Gioni und die KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen
Schauen wir uns die Ausstellung genauer an, um diese Frage zu verhandeln. Dazu betreten wir die Arsenale und verharren als erstes vor Auritis Menschheitsturm. Und während man sich fragt, woher eine Person die Kraft und den Glauben nimmt, sich um so einen Turmbau zu bemühen, und man zu dem Schluss kommt, dass Auriti einfach ein bisschen anders gewesen sein muss, wird diese Annahme wieder zerstreut. Denn die den Turm umgebende Säulenreihe trägt im Fries als Inschrift Weisheiten über die Liebe und das Leben, unter anderem Sätze wie: „Live by your work“, „The less you desire the greater is your happiness“ und „Simple things allow you to enjoy life“. Spielt Auriti mit uns? Der Gedanke, dass die eigene Obsession mit einem Augenzwinkern gelebt wird, dass sie nicht „echt“, nicht „absolut“ ist, liegt nahe. Ist Absolutheit eine Erfindung? Wenn wir sie nicht in uns und nicht in Gott finden können, so sollen doch wenigstens die Besessenen, die, die etwas „anders“ sind, absolut in ihrem geschlossenen Weltsystem leben. Wenn ein obsessiv am absoluten Wissen arbeitender Auriti dann durch seinen Menschheitsturm sagen lässt: „Simple things allow you to enjoy live“, scheinen wir einem Scharlatan aufgesessen, und auf einmal wirkt das Vorhaben Auritis so absurd, dass man sich einfältig vorkommt, vor wenigen Minuten noch sein Bestreben den Turm zu bauen als ein ernsthaftes verstanden zu haben. Diese Vielschichtigkeit, das zwinkernde Auge, findet sich in einigen der ausgestellten Werke wieder. Möglicherweise liegt das daran, dass uns das Werkzeug fehlt, das wir zur Betrachtung von Dingen brauchen, die ursprünglich nicht als Kunst intendiert waren und jetzt aber in einer Kunstausstellung zu sehen sind. Viele der Nicht-KünstlerInnen haben einige Zeit ihres Lebens in Psychiatrien oder ähnlichen Einrichtungen verbracht. Ihre Werke sind unter anderen Prämissen entstanden, weswegen es ungebührend scheint, sie nach denselben Maßstäben wie Kunst-Kunst zu betrachten. Geht es in Gionis Ausstellung um das Urteilen? Darum, dass wir wieder das reine Sehen lernen sollen, ohne auf die Namen der KünstlerInnen und SammlerInnen sowie die kunsthistorische Relevanz zu achten?  

Auritis Augenzwinkern findet sich in Gionis Ausstellung nicht wieder. Der Titel, den sich die beiden teilen und der bei Gioni zu vielen offenen Fragen führt, könnte mit ebenjenem auritischen Augenzwinkern sich selbst von dem Verdacht auf einen gestellten Absolutheitsanspruch befreien. Dafür müsste die Ausstellung die eigenen Bedingungen und die eigene Ausschnitthaftigkeit mitreflektierten oder das Thema des Enzyklopädischen, des Absoluten anders behandeln. Doch das tut Gioni nicht, er nimmt „the impossible desire to concentrate the infinite worlds of contemporary art in one single place“4 als Herausforderung an, und versucht eine würdige Lösung zu finden.  

Das Ergebnis davon ist eine Zusammenschau vieler Dinge, die verschiedene Aspekte des Lebens und Umgangsweisen mit den Fragen des Lebens zeigen. Es sind Versuche von Menschen, der Welt eine Ordnung zu geben, in der es sich für den jeweiligen Menschen leben lässt. Gioni zeigt diese Versuche, er stellt sie nebeneinander aus, scheinbar ohne zwischen KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen einen hierarchischen Unterschied zu machen. Doch der Schein trügt, denn die Arsenale schließen mit bekannten und in der Kunstwelt anerkannten Größen (Bruce Naumann, Dieter Roth und final: Walter de Maria). Insgesamt sind jedoch wenige Kunstpäpste zu sehen, und es gibt viel zu entdecken. Die Positionen im Palazzo Enciclopedico haben keine Gemeinsamkeit, unter der sie sich subsumieren lassen, außer der sehr wagen, dass sie alle Ausdruck des menschlichen Lebens sind. Manche Werke sind Ausdruck einer innerer Welt (dieses Thema wird hauptsächlich in den Giardini verhandelt), manche eines Ordnungssystemes (vor allem die Werke in den Arsenalen). Aufgrund der Fülle und der Vielfalt im Palazzo Enciclopedico ist es unmöglich alle Werke zu beschreiben oder auch nur zu nennen. Dafür sei auf den Katalog verwiesen. Hier werden vielmehr einzelne Positionen herangezogen, um die Bandbreite anzudeuten,  die in Gionis Enzyklopädie Einlass gefunden hat.

Den Auftakt in den Giardini macht das Rote Buch von Carl Gustav Jung, gefolgt von Tafeln Rudolf Steiners. Zwei Namen, die dem Biennale-Publikum sicherlich bekannt sind, allerdings aus psychologischen bzw. esoterischen Zusammenhängen. Macht Gioni diese Artefakte zu Kunst, indem er sie auf der Biennale zeigt? Können seine Person und der Kontext solch eine Veränderung der Wahrnehmung, solch eine Umkonnotierung bewirken? Allerdings geht es Gioni nicht primär um diese Fragen nach den Grenzen der Kunst, sondern um „the many ways in which images have been used to organize knowledge and shape our experience“5. Irritierend wirkt, dass die aussgestellten Dinge im Kontext der ältesten und größten Biennale der Welt gezeigt werden, nach deren Selbstverständnis junge, neue Kunst gezeigt werden müsste. So wird die Möglichkeit das reine Sehen neu zu lernen von dem kunsthistorischen Kontext, in dem wir uns befinden, wenn wir durch die Giardini gehen, überlagert. Zu der Frage danach, inwieweit Gioni das Ausgestellte als die neue Kunst versteht, gesellt sich die Frage, wie es um das Verhältnis zwischen den Ausgestellten und dem Kurator steht.  

In den Giardini stehen wir in einer Arbeit des Künstlerduos Fischli und Weiß, das mit „Plötzlich diese Übersicht“ vertreten ist. Sie besteht aus kleinen getonten Gegenständen, Figuren und Ereignissen, durch die die Künstler über 14 Jahre hinweg eine Enzyklopädie geformt haben, die einiges des für sie Relevanten enthält. Die Einträge sind höchst subjektiv. An „Plötzlich diese Übersicht“ lässt sich das Anliegen Gionis ablesen, den persönlichen Standpunkt im Allgemeinen zu verankern. Gioni will verständlich machen, dass „[t]hese personal cosmologies, with their delusions of omniscience, shed light in the constant challenge of reconciling the self with the universe, the subjective with the collective, the specific with the general, and the individual with the culture of her time.“6 Das spricht dafür, dass Gioni derjenige ist, der das Wissen in seinem Palast sammelt, der für uns die wichtigen Fragen stellt und für uns die Antworten darauf sucht. Der die Werke danach aussucht, wie gut sie seine Fragen und Thesen stützen. Oder hat er ebendiese aus den Strömungen abgelesen und trägt nun einfach zusammen, was er beobachtet hat?  

Ein weiterer Künstler, dessen Arbeiten wir im Palazzo Enciclopedico sehen können, ist Gianfranco Baruchello, ein italienischer Künstler. Er fertigte ab den 40ern sehr detaillierte Collagen an, die nach Lyotard für „the demise of modernity‘s grand narratives“7 stehen und zugleich „a provisional picture of the postmodern sublime“8 sind. Dieser Versuch „to explain everything and nothing at all at once“9, der im Ausstellungskatalog Barucchelos Werken zugeschrieben wird, beschreibt das Gefühl treffend, das bleibt, nachdem man Gionis Ausstellung verlässt. Wir meinen einen Einblick in die Kunst des 13. Jahres des zweiten Jahrtausends nach Christus zu bekommen, weil die Biennale für das Zeigen von aktueller Kunst steht, für das Neue. Doch Gioni bittet meine Erwartungen um einen Tanz, so dass ich alleine am Rand der Tanzfläche stehen bleibe. Meine Erwartungen aber, aufgrund der Ernsthaftigkeit, mit der der Mann tanzt, werden von Beklemmung befallen, bis sie es schließlich schaffen, sich aus der Situation zu retten, indem sie sich in Luft auflösen.  

3. Gioni und die Geschichte
Vielleicht bietet uns die Geschichte der Biennale einen Anhaltspunkt bei der Suche nach dem richtigen, oder besser: von Gioni intendierten Verständnis des Palazzo Enciclopedico. Bei ihrer Gründung 1895 fand die Biennale in lediglich einem Ausstellungshaus und mit 285 beteiligten, zur Hälfte italienischen und zur anderen Hälfte internationalen Künstlern statt. Riccardo Selvatico, der damalige Bürgermeister von Venedig und Zugpferd der ersten Biennale, ließ vernehmen, „dass eben die Kunst eines der wertvollsten Elemente der Zivilisation bildet und sowohl eine vorurteilsfreie Entwicklung des Geistes sowie die brüderliche Vereinigung aller Völker bietet“10. Bis heute ist das Selbstverständnis der zweijährig stattfindenden Weltkunstausstellung folgendes: „Ever since its foundation in 1895, it has been in the avant-garde, promoting new artistic trends and organising international events in contemporary arts. It is world-beating […].“11 Die Biennale war einstmals eine aus heutiger Sicht verhältnismäßig kleine Ausstellung. Sie ist in alle Richtungen explodiert, hat sich allen Disziplinen geöffnet, hat, während die Besucherzahlen sich lediglich verdoppelt haben, die Giardini ganz eingenommen, das Arsenale-Gelände und viele weitere Räume in der Stadt. In den ersten Jahren wurde mit der Biennale, auch dadurch, dass sie als Messe diente, Gewinn erwirtschaftet, der in junge Künstler und soziale Angelegenheiten der Stadt reinvestiert wurde. Nachdem die Biennale stetig weiter wuchs, hat sie ein Ausmaß erreicht, das die Visionen Selvaticos sicherlich längst überstiegen hat. Auf der diesjährigen 55. Biennale gibt es allein 88 offizielle Länderpavillons. Die Biennale hat zwei Schwerpunkte: die Länderpavillons und die kuratierte Ausstellung. „The task that now seems as dizzyingly absurd as Auritis dream“12, ein Ausstellung zu kuratieren, an der sich Strömungen der Zeit ablesen lassen und die diese setzt, auf die alle schauen und über die alle sprechen, begegnet Gioni ausweichend. Anstatt den Kunstmarkt mit Namen und Neuentdeckungen zu füttern, fragt er nach der Relevanz, die der Markt für die Bedeutung einzelner KünstlerInnen haben kann. Doch dies ist nicht sein Hauptanliegen, es geht ihm um die Untersuchung der Möglichkeit, mit Bildern Wissen zu schaffen oder zu bewältigen. Exemplarisch für diesen Zugang steht die Arbeit einer jungen Französin, Camille Henrot. In ihrer Videoarbeit „Grosse Fatigue“ (2013) erzählt sie eine Geschichte der Entstehung der Welt, gewebt aus verschiedenen Mythen – von denen einer unter vielen die Evolution ist. Henrot verwendet verschiedene Bildformen. Ausgehend von einem Desktop werden auf diesem immer wieder neue Fenster mit Videos geöffnet, denen verschiedene Bildsprachen und semiotische Systeme zugrunde liegen. Das Internet als zentraler Bilddistributor und Multiplikator spielt, außer in Henrots Werk, auf der Biennale keine Rolle. Wieso klammert Gioni diesen, wenn es um die Frage der Verknüpfung von Wissen und Bildern heute geht, zentralen Punkt aus? Ist er nicht kuratierbar? Das kann die Antwort nicht sein. Würde das Internet Gionis Palazzo unterwandern, indem es Räume öffnet, dessen Inhalt und Wirkung nicht kalkulierbar sind? Diese Frage stellt sich, weil der Eindruck sich mehr und mehr verfestigt, dass Gioni im Palazzo der eigentliche und einzige Wissende ist. Nicht die Ausgestellten sind es, die Komischen, die OutsiderInnen und KünstlerInnen, sondern Gioni. Er weiß etwas, er schafft eine Enzyklopädie und lässt sie uns sehen, lässt uns staunen, fragen und lernen. Dass die Biennale ursprünglich dazu diente, eine Auswahl neuer Kunst zu zeigen, ist in Gionis Ausstellung nebensächlich geworden.  

Im Gegenteil, er orientiert sich offensichtlich an anderen großen Ausstellungen und ihn scheint die Frage danach, was es mit dem „Bild“ auf sich hat, stärker umzutreiben, als diese mit dem Kontext der Biennale zusammen zu bringen. Auch Harald Szeemann stellte 1972 auf der von ihm kuratierten Documenta 5 die Frage nach der Stellung und möglichen Kraft und Macht von Bildern: „Die Befragung der Realität in Beispielen heutiger künstlerischer und nichtkünstlerischer Bilder“13 war sein Anliegen, um den immer größer werdenden „Zweifel am Kunstbetrieb“14 offenzulegen. Und um der Zeit, in der der „Kunstkontext äußerlich Triumphe feiert[] und vom Ranglistenfieber der Kompetition geschüttelt [wird]“15, diesen Kunstkontext sich selbst vorzuführen. Damit, so die implizite Hoffnung, öffne sich die Möglichkeit, zu Kunst als Kunst zurückzufinden. Auffällig ist die  Verwandtschaft von Gionis 55. Biennale mit Szeemanns Documenta 5, wenn man nicht sogar schon von programmatischer Nähe sprechen kann. In Gionis Worten klingt Szeemanns „Befragung der Realität in […] künstlerische[n] und nichtkünstlerische[n] Bildern“ folgendermaßen: „Blurring the lines between professional artists and amateurs, outsiders and insiders, the exhibition takes an anthropological approach to the study of images, focusing in particular on the realms of the imaginery and the functions of imagination.“16 Zwischen den Ausstellungen liegen gut 40 Jahre, doch das Thema der beiden Ausstellungen ist, wie die Texte der Kuratoren zeigen, im Allgemeinen dasselbe: sie sind Interrogationen zum jeweils aktuellen Umgang mit Bildern in ihrer vorhandenen Bandbreite. Durch eine Inklusion nicht dezidiert künstlerischer Positionen verbindet sie zudem die Missachtung des Kunstmarktkanons. Symptomatisch zeigt sich hier Gionis Umgang mit Zitaten, der Titel und die Ausstellungsidee sind nicht seine Neuerfindungen. Hier wie bei den ausgestellten Werken scheint es Gioni nicht um das „Neue“ zu gehen. Er beansprucht dieses Prädikat nicht für seine Ausstellung. So wie er anhand der ausgestellten Werke und Biografien der UrheberInnen seine Fragen wie „What room is left for internal images – for dreams, hallucinations and visions – in an era besieged by external ones? And what is the point of creating an image of the world when the world itself has become increasingly like an image?“17 verhandelt, verhandeln die Nicht-KünstlerInnen und KünstlerInnen diese Fragen oder Teilaspekte davon in ihren Werken. In Gionis Enzyklopädie müssten neben den Einträgen die Werke betreffend unter anderem auch welche zu Prinzhorn und Szeemann zu finden sein. Was beim Besuch der Beinnale für einen Moment der Irritation sorgen kann, denn Gioni orientiert sich nicht an der Geschichte der Biennale, sondern an der Ausstellungsgeschichte im Allgemein.  

4. Gionis Enzyklopädie
Gioni schafft sich eine Enzyklopädie, um dadurch und darin Antworten auf seine Fragen zu sammeln – seine Fragen nach dem Bild und dessen Verquickung mit Wissen und Wissensstrukturen, nach dem Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Bild und danach, ob es diesen Unterschied tatsächlich gibt. Dabei werden die gezeigten Werke zu Einträgen in seiner Enzyklopädie, zu Anschauungs- sowie Untersuchungsobjekten. Ohne den gionischen Buchrücken würden die mit Collagen, mit Fotografien von Vögel, von Frisuren und von Menschen, mit fantastisch getonten Tieren, mit Heften, mit Modellen und mit Zeichnungen gefüllten Buchseiten seiner Enzyklopädie auseinander fallen. Doch Gionis Buchrücken ist stabil und auch wenn das Buch, das er geschrieben hat, uns keine neue Welt eröffnet, so erzählt es uns doch eine schöne Geschichte, von der Wiederkehr der Ideen und dem ewig unerfüllt bleibenden Streben der Menschen nach dem Absoluten. 

  • 1. http://biologie-unterricht.de/einfue5/index.htm, Stand: 14.04.2014
  • 2. Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache John Wilkins’, in: ders.: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 212, zitiert nach: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 12. Auflage, Frankfurt am Main 1994, S. 17
  • 3. Massimiliano Gioni: Il Palazzo Enciclopedico (The Encyclopedic Palace), in: Il Palazzo Enciclopedico, Short Guide, 2013, Fondazione La Biennale di Venezia, S.21
  • 4. ebd.
  • 5. ebd., S. 18
  • 6. ebd.
  • 7. Chris Wiley: Gianfranco Baruchello, in: Il Palazzo Enciclopedico, Short Guide, 2013, Fondazione La Biennale di Venezia, S.44
  • 8. ebd.
  • 9. ebd.
  • 10. Christoph Becker: Die Biennale Venedig und die deutschen Beiträge von 1895 bis 1942, S.13-34, in: Biennale Venedig. Der deutsche Beitrag1895-1995, Hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart, Hatje Cantz Ostfildern, 1995, S.13
  • 11. http://www.labiennale.org/en/biennale/, Stand: 14.04.2014
  • 12. Massimiliano Gioni: Il Palazzo Enciclopedico (The Encyclopedic Palace), in: Il Palazzo Enciclopedico, Short Guide, 2013 Fondazione La Biennale di Venezia, S.18
  • 13. Harald Szeemann, in: Ausst.-Kat., Documenta 5, Kassel, 1972, S. 10
  • 14. ebd.
  • 15. ebd.
  • 16. Massimiliano Gioni: Il Palazzo Enciclopedico (The Encyclopedic Palace), in: Il Palazzo Enciclopedico, Short Guide, 2013 Fondazione La Biennale di Venezia, S.18
  • 17. ebd.