Wildes Künstliches Leben
Ibrahim Quraishi: Wild Life Take Away Station
Frankfurt, Mousonturm, 13./14. Dezember 2013
von Mira Hirtz
“Erst wenn die Aufführung vorbei ist, können zielgerichtete Bemühungen einsetzen, sie nachträglich zu verstehen. […] Wer eine Aufführung nachträglich verstehen will, muß also die erinnerten nicht-sprachlichen Bedeutungen in sprachliche >übersetzen<, was ihn teilweise vor nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten stellt.”1
Ich versetzte mich zurück:
Ziemlich unvorbereitet steige ich im Mousonturm in Frankurt die Treppen hoch zum Studio 1 und stocke beim Eintreten erst einmal: Ist das gerade ein unpassender Moment? Ein Umbau, ein Filmset? Nein, genau das ist die Wild Life Take Away Station, eine Performance entwickelt von Ibrahim Quraishi in Zusammenarbeit mit einem Team aus PerformernInnen, KomponistInnen, DramaturgInnen, TechnikerInnen, der Institution de Appel und vielen mehr.
Erst mal auf den Boden setzten, das kommt souverän und man muss so nicht zu erkennen geben, dass man eigentlich unsicher ist, ob man nun auf den Sitzgelegenheiten Platz nehmen darf oder nicht. Für einen Moment zweifle ich sogar, ob sie echt sind und das Gewicht eines Körpers aushalten würden. Vielleicht ist das nur angemaltes Pappmaschee? Denn alles um mich herum erinnert an eine Kulisse eines Filmsets, in der auch nur das benutzbar ist, was für den Gebrauch erdacht wurde: Wandstücke mit Tapete und Spiegel, Tische mit Büchern, abschnittweise Teppiche, dann wieder kahler Studioboden, außerdem jede Menge Equipment wie große Lichtkegel, Kabel, Boxen, ein Mischpult in der Ecke mit überprüfenden langhaarigen Technikern – aber es gibt keine Filmkamera, niemand ruft Action, keinen Regisseur. Die Konzentration richtet sich stattdessen auf zwei durch Wände voneinander abgeschirmte Personen, die Text in Mikrophone sprechen und dann wieder rauchend ihren Einsatz abwarten. Ich lausche ein bisschen und wandere umher, sodass immer mehr Details in mein Blickfeld rücken: Ein mit Erde ausgelegter Boden, Gemälde und eingerahmte Fotos, im Waschbecken steht das Wasser, der Badteppich vor der Toilette sieht alt aus, Fensterrahmen hängen von der Decke, zerbrochenes Glas darunter. Und einem der Fensterrahmen ein nackter Performer in einer kontemplativ-aus-dem-Fenster-Schauen Haltung, Brille, karierte Hausschuhe, windige Frisur. Außerdem gibt es noch zwei weitere Räume. Rechts von der Treppe eröffnet sich ein dunkler, feierlich anmutender Speisesaal, mit langem Tisch und Essensresten auf der goldenen Tischdecke, mit Pflanzen, Lichterketten und einem besonders absurden Eckkasten, der mit weißen Daunenfedern gefüllt ist. Gegenüber präsentieren dunkelrote Wände abermals golden gerahmte Bilder – herrschaftlich ist es hier. Zurück und vorbei am Technikpult gelangt man durch einen Gang in eine Art Wohnzimmer: Eine Sofaecke, stark haarende Teppiche, ein Fernseher, in dem in Schwarz-Weiß ein Tanzprogramm läuft, ein Holzbock und Scheite, ein Kicker, ein Puzzle. Eine Schnapsflasche auf dem Beistelltischchen. Und auf dem Sofa, eine nackte Performerin, eine ältere Frau, die versunken zu lesen scheint.
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Ich bringe meine Jacke zur Garderobe, denn hier herrscht eine fast schwindelig machende Hitze für alle, die noch ihre Kleider tragen. Dann setze ich mich wieder auf den Boden. Wo bin ich hier gelandet?
Ich bleibe vier Stunden. Ich beobachte: Die nackte Frau und der nackte Mann gehen rückwärts Schritt für Schritt aufeinander zu, sie stellen Gegenstände aus der “Wohnung” im Kreis auf und geben ihnen Namen (Marken oder berühmte Persönlichkeiten, wie mir scheint) und tragen sie dann wieder zurück, er schaut noch viele Male aus dem Fenster, sie liegen, lesen, essen, er masturbiert.
Zudem verändert sich meine eigene Rolle. Denn habe ich anfangs noch gedacht, dass es langweilig werden könnte, so passiert auch für die Besucher einiges, wenn sie denn wollen: Ich setzte mich neben die nackten Menschen aufs Sofa, unterhalte mich mit Ibrahim Quraishi, ich blättere in den Büchern und höre der Sprecherin und dem Sprecher viele Male auf dem Boden sitzend zu. Ich lerne andere Besucher kennen und verliere im Tischkicker. Mein Spielpartner fragt nach meiner Mailadresse. Überlegungen: Ich habe gerade wieder Erika Fischer-Lichte gelesen, vor allem ihre Ästhetik des Performativen. Ihre Analysen geistern mir deswegen während der vier Stunden im Studio 1 im Kopf herum. Die Wild Life Take Away Station bietet geradezu vorbildhaft einige der Themen zur Analyse an, die Aufführungen der letzten Jahrzehnte kennzeichnen und die Fischer-Lichte beschreibt:
Der performative Raum wird aufgebrochen, denn die BesucherInnen stolpern geradezu in einen setartigen Aufbau, der keinen den Sitzreihen eines Theatersaals adäquaten Bereich aufweist.
Mit der Zeit wird immer unklarer, wer hier eigentlich performt – die zwei nackten Menschen, oder nicht auch die BetrachterInnen, die sich in der Szene bewegen? In ihrer Nacktheit ziehen Performern und Performer die Aufmerksamkeit auf sich, sie werden zum Objekt der Betrachtung, fast wie in einem Zoo ohne Käfige. Auch transportieren sie so zwar eine gewisse Atmosphäre des Ausgeliefertseins – nach einer Weile fühle ich mich aber ebenfalls beobachtet, da ich, wie auch alle anderen BesucherInnen, diejenige bin, die keine Anweisungen erhalten hat und daher das eigentlich Aufregende und Unerwartete hervorbringen könnte.
Man kann hier von “Rahmenkollisionen”3 sprechen. In welchem Format befinde ich mich – Theaterstück, Filmdreh, Performance, szenografische Gestaltung? Wo liegt der Fokus? Ich habe mich eine Weile als Involvierte in einer Performance gefühlt, dann bemerke ich, dass gegenüber des Fensterrahmens eine Fotografie vom Setaufbau des Stücks an der Wand hängt und dass hinter den roten Wänden im Speisesaal jeweils ein Monitor steht, auf dem eine Filmdokumentation des Stücks läuft und mir Szenen zeigt, die ich hier “live” noch nicht gesehen habe. Plötzlich bin ich wieder Betrachterin einer Ausstellung. Schon der Untertitel dieser Veranstaltung deutet auf ein komplexes Rahmenspiel hin: “Performance, Choreografie, Installation” heißt es auf dem Faltblatt, die Homepage nennt es “Installation/Film/Images”. Das Faltblatt gibt außerdem die Auskunft, dass die “Performance […] aus 24 Szenen mit einer Gesamtdauer von 30 Stunden aufgeteilt in 6 Zyklen” besteht, es folgt ein Ablaufplan mit Angabe der Zyklen, Essens- und Schlafzeiten und dem Punkt “Therapiesitzung”. In ausführlicher Form hängt dieser Plan neben dem Mischpult – die Techniker beäugen mich zwar missbilligend, aber halten mich nicht und auch niemand anderen davon ab, ihn zu lesen. Im Minutentakt sind hier die Aktivitäten der PerformerIn ausgeführt. All das erinnert an den Aufbau eines Theaterstücks in festgelegten Akten und Bilder und doch befindet man sich in einer für äußere Einflüsse hochsensiblen Szenerie. Äußere Einflüsse, damit meine ich vor allem die ZuschauerInnen, die jederzeit Zugang zu diesen Räumen haben und die mit ihrer Anwesenheit, mit ihren Handlungen, aber auch schon mit ihren Reaktionen auf die Szenen einwirken und somit unberechenbare Faktoren darstellen. “Es sind entsprechend die Wahrnehmungsbedingungen, die für eine Aufführung geschaffen werden – sei es durch räumliches Arrangement, sei es durch eine spezifische Art der Darstellung –, die je besondere Möglichkeiten für die Dynamik der feedback-Schleife [zwischen AkteurIn und ZuschauerIn] bereitstellen und eröffnen, ohne sie doch determinieren zu können.”4
Was sehen wir als BesucherInnen hauptsächlich – die Verkörperung einer gewissen Rolle oder die PerformerIn in ihrer leiblichen Präsenz? Ständig wechselt meine Wahrnehmung zwischen dem Versuch herauszufinden, welche Figur die PerformerInnen darstellen, welche Atmosphäre die Kulisse vermitteln will – und der sozusagen phänomenalen Wahrnehmung der nackten Körper. Ich frage mich, wie das wohl für die beiden sein muss, den ganzen Tag so herumzulaufen, ich kenne die ältere Frau von früher und fühle mich unwohl, weil sie mich wiedererkennt. Somit passiert genau das, was Fischer-Lichte als eine Folge des dynamischen Wahrnehmungsprozesses beschreibt: “Der Wahrnehmende fängt an, sich selbst als Wahrnehmenden wahrzunehmen […]. Je öfter die Wahrnehmung der Ordnung der Präsenz und der Ordnung der Repräsentation umspringt, also zwischen eher >zufälligen< und eher zielgerichteten Prozessen der Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung, desto größer erscheint das Maß an Unvorhersagbarkeit insgesamt und desto stärker richtet sich die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf den Prozeß der Wahrnehmung selbst. Es wird ihm zunehmend bewußt, daß ihm nicht Bedeutungen übermittelt werden, sondern daß er es ist, der sie hervorbringt […].”5 Mal sehe ich eine Figur (“Ordnung der Repräsentation”) und ihre Handlungen als symbolische und schauspielerische, mal nehme ich die Performerin oder den Performer als Menschen wahr (“Ordnung der Präsenz”), und je öfter diese Wahrnehmungsweisen sich verändern, desto mehr muss ich darüber nachdenken, wann und warum sie es gerade in diesem Moment tun.
Die Handlungsanweisungen sowie die Möglichkeit der BetrachterInnen, diese durcheinander zu bringen, erzeugen einen experimentellen Aufbau, der genau dazu dienen könnte, diese Beziehung zwischen BetrachterInnen und PerformerIn, die Inszenierung als eine offene Struktur zu erforschen. Das Aufführen wird aufgeführt.
Das Obszöne:
Aber irgendwie befriedigt die Analyse nicht, während ich im Studio 1 stehe und mir denke, aha, Rahmenkollision! Ich denke: Rahmenkollision, ich denke auch: Aufbrechen des Bühnenraums, Miteinbezug der Betrachter, ich denke: Unmöglichkeit, alles zu sehen, denn die Performance dauert 30 Stunden und die BesucherInnen haben sogar die Möglichkeit, hier zu übernachten. Ich denke: Irritationsmoment, aber trotz dieser Erkenntnisse fühle ich mich, als hätte ich diese ganze Station nicht erfasst. Alle oben angesprochenen Erkenntnisse beziehen sich auf Merkmale des Formats Performance, sie sind als deren Elemente Klischees der zeitgenössischen Theater- und Performancepraxis. Ihre Klischeehaftigkeit und Nichtaussage werden mir bewusst, sie werden seltsam ausgestellt. Und da liegt noch etwas in der Luft, oder begraben.
Drei Jahre habe er an diesem Stück gearbeitet, sagt Ibrahim Quraishi zu mir. Es ist fast unheimlich mit diesem Wissen durch das Studio zu wandern: Jedes Detail, sein Ort, seine Funktion, jeden Moment muss er viele Male durchgedacht haben. Nichts ist willkürlich, und doch wirkt es verletzlich. Das Set und das Verhalten der PerformerInnen strotzen geradezu vor Oberflächlichkeit, vor “Unnatürlichkeit” in dem Sinne, dass das Künstliche offensiv kommuniziert wird. Alles ist Kulisse, die Bewegungen der Performer sind geplant und unnahbar. Dennoch ist es ein unstabiles System, das Vorsicht verlangt und mit zunehmender Spannung aufgeladen wird, einer Spannung zwischen dem Offensichtlichen und dem noch Verdeckten.
Das Faltblatt gibt dazu die Auskunft, dass für Ibrahim Quraishi “Theater ein Paradox [ist] zwischen dem, was wir offensichtlich praktizieren, heimlich lieben und instinktiv fürchten. Theater muss das >Verborgene< sichtbar machen. Das Obszöne lebt von diesem Paradox: Es zerfällt, während es sich entwickelt.” Was ist die Geschichte hinter diesen mal subtilen, mal offenen Andeutungen? Der Umgang der PerformerInnen mit dem Raum und miteinander wirkt privat und gewöhnlich, aber allein schon ihre Nacktheit gepaart mit emotionaler Kälte, sei sie noch so geschauspielert, steht dazu in einem Kontrast. Das unbeirrte Fortlaufen der Bewegungen, in immer ähnlicher Geschwindigkeit und Qualität, erweckt den Eindruck, als wäre den PerformerInnen in ihren Rollen dieser Kontrast nicht bewusst, als könnte das schon schreiend Offensichtliche ignoriert werden – dass dieser Alltag ganz und gar nicht alltäglich ist.
Der Text der Sprecherin und des Sprechers funktioniert ähnlich: In Dialogen erzählen sie von leidenschaftlichen, freundschaftlichen, emotionalen Begegnungen von einer Frau und einem Mann, die mit ihren Vorstellungen von Leben und Liebe nicht ganz zueinander zu passen scheinen. Sie beziehen sich auf Ereignisse, die der Zuhörer nicht kennt. Die ständige Wiederholung der Geschichte lässt mich auf Nuancen achten, macht mich auf die Abhängigkeit des Inhaltes dieser Geschichte vom umgebenden Kontext aufmerksam – denn das Gehörte wirkt sehr anders, wenn Performerin und Performer im Hintergrund anwesend aus dem Fenster schauen oder wenn sie gerade mit langsamen Schritten aufeinander zugehen. Die ständige Wiederholung lässt mich vor allem auf die Gesichter, die Performance der Sprecherin und des Sprechers achten. Ihre Gestik passt sich dem Ton an, mit dem sie das Gesagte hervorbringen. Das Heben der Augenbrauen, das Blasen des Rauches, der Lippenstift, ein Zurücklehnen gehören dazu, sind erzeugt, und doch “echt.” Ihre Körper sind für den jeweils anderen hinter den Stellwänden versteckt, ihre durchdringenden Stimmen werden jedoch durch Boxen für alle hörbar in sämtliche Räume übertragen. Die Geschichte gelangt nie zu einer Auflösung, wird mit jeder Wiederholung abstrakter, aber die Dialoge bleiben intim.
Gedankenkreise:
Die Vermischung von Alltag, Leben und Aufführung, oder wenigstens die Möglichkeit dieser, ihre Thematisierung, Hinterfragung, all das sind bekannte Topoi der Kunstpraxis und der Kunstgeschichte. Für Martin Seel definiert sich die Inszenierung als ”eine Inszenierung von Gegenwart. Sie ist ein auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das hier und jetzt geschieht, und das sich darum, weil es Gegenwart ist, jeder auch nur annähernd vollständigen Erfassung entzieht.”6
Aber es bleibt eben nicht bei diesem Gedanken. Natürlich muss man nicht Fischer-Lichte gelesen haben, um dieses Stück zu analysieren, und natürlich gäbe es tausend andere bessere Bücher dafür und natürlich muss man auch gar keins gelesen haben, natürlich bringt jeder sein Wissen, sein Leben, seine letzten fünf Minuten, seine Gedankenkreise mit. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich auf dem Boden sitzend oder umherwandernd über meine Gedankenkreise nachdenke, vor deren Hintergrund ich diese Dinge wahrnehme. Zum Beispiel: Wie schrecklich schwer es ist, sich einzulassen und nicht bloß mit fertigen Gedanken zu jonglieren, die den Zugang von Vornherein erschweren. Braucht es also einen Schock, eine Wirkungsästhetik, um mich sowohl aus den analytischen Begriffen, als auch aus einem gewissen professionellen Habitus der Neugierde herauszuholen? Das “Zwischen” nicht nur als bevorzugte Kategorie zu verstehen, sondern es zu erleben? Kann und sollte das aber überhaupt die Aufgabe einer Performance sein?
Gegen Abend:
Nun umrundet von einer größeren Zahl von BesucherInnen, nehmen die nackten Performerin und der nackte Performer in stiller Abfolge Kampfposen gegeneinander ein, mit großer Anspannung, furchtbar ernst, den Augenkontakt verlieren sie nie. Und sie spannen Käse in Mausefallen und tragen sie aus dem Speisezimmer, um sie in der gesamten Kulisse zu verteilen. Er stellt eine Mausefalle zwischen meine Füße. Aha, denke ich, Interaktion. Ich schmunzle und trete dann vorsichtig ein paar Schritte zur Seite. Aber mir wird klar, dass niemand auf die Mausefalle achten wird, wenn ich nicht mehr dort stehe. Ist nicht meine Schuld. Aber vielleicht doch meine Verantwortung? Ich ärgere mich kurz. Und denke nochmals: Aha, das ist Miteinbezug des Betrachters. Aber nach all den Stunden fühlt sich das weniger nüchtern an. Als ich wenig später gehe, ist es wie nach einem Abend mit reger Diskussion, wie nach einem Tag, an dem ich etwas von mir gegeben habe. Ich möchte den inzwischen erschöpft wirkenden Performern zulächeln, winken, mich als Dialogpartnerin verabschieden. Wieder ein Fischer-Lichte Klischee. Aber vielleicht habe ich es selten so sehr erlebt.
Ich erinnere mich an das Gefühl kurz danach:
Genau das scheint mir nun der Inhalt – genauer meine selbst mitkonstituierte Bedeutung – der Wild Life Take Away Station zu sein: Es ist, als würde die Performance in ihrer ungreifbaren Räumlichkeit mich fragen: Will ich dich schocken? Vielleicht tue ich mal ein bisschen so, ich werde mal ein bisschen intensiver, aber eigentlich passiert ja nichts. Eigentlich ist ja alles klar. Was guckst du denn so? Was gibt’s da noch zu analysieren? Hier liegt alles offen. Sogar, dass alles verdeckt liegt, gebe ich offen zu. Alles was ich bin, ist bloß ein Modell: ”Die Aufführung ist in dieser Hinsicht, prononciert gesprochen, sowohl als Leben selbst als auch als sein Modell zu begreifen – als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten, von Akteuren und Zuschauern, real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen; als ein Modell des Lebens, insofern sie […] Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, so dass die Aufmerksamkeit der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden.”6
Was wird mir durch diese Modell gewahr? Dass Begriffe an Versuchen des Verstehens abprallen, weil es noch etwas Tieferliegendes zu geben scheint? Für mich wird klar, dass es der Schein ist, um den es geht. Alles scheint etwas zu verbergen. Das Verbergen ist ein krasses Gefühl, ein großes Geheimniss, ein Verbrechen vielleicht, etwas Gewalttätiges ist inmitten dieser Szene versteckt. Vielleicht platzt es gleich hervor. Vielleicht werde ich es verpassen, denn ich muss zurück zum Zug. Aber vielleicht ist es eben nur ein Schein, der mich über meinen Versuch zu Verstehens nachdenken lässt, sowohl in der Aufführung, als auch jetzt, hier draußen. Er genügt, es muss nichts “Wahres” hinter der Kulisse geben. Und gerade das lässt mich mit diesem seltsamen verschobenen Gefühl zurück.
“Der Versuch, eine Aufführung nachträglich zu verstehen, erzeugt so einen eigenständigen Text, der nun seinerseits verstanden werden will.”7
- 1. Erika Fischer-Lichte: „Ästhetik des Performativen“, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2004, S.277
- 2. Ansicht, http://www.mousonturm.de/web/en/veranstaltung/wildlife
- 3. Erika Fischer-Lichte: „Ästhetik des Performativen“, z.B. S.66 zu Schlingensief
- 4. Erika Fischer-Lichte: „Ästhetik des Performativen“, S.100
- 5. Ebd., S.261
- 6. Martin Seel: „Inszenierung als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweiter eines Begriffs“, S.53
- 7. Ebd., S.280