Zwischen Geist und Maschine

Philippe Parreno: ANYWHERE ANYWHERE OUT OF THE WORLD
Paris, Palais de Tokyo, 23. Oktober 2013 – 12. Januar 2014 
von Mira Hirtz

Auf der Museumskasse des Palais de Tokyo liegen Faltblätter mit kurzen Beschreibungen der gezeigten Arbeiten und einem Lageplan aus. Ich versuche ich mich zu orientieren und erfahre so, dass ich bereits ohne es zu merken an mehreren Werken vorbeigelaufen bin – man sollte besser sagen, Interventionen: Die Kasse ist ein hell erleuchteter Kasten geworden, die Fenster sind mit einem milchigen Film überzogen. Beide Male soll es um Wahrnehmungsweisen gehen, sagt das Faltblatt: Das Museumspersonal wird zur Silhouette, die äußere Welt verschwimmt. Ich lese weiter, dass mich beim Ausstellungsbesuch mehrere solcher architektonischen Eingriffe erwarten werden und dass Parreno den Palais umfassend umgestaltet habe.  


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Mein Interesse ist geweckt. Parreno galt Nicolas Bourriaud in seinem Aufsatz zur Ésthetique Rélationnel 1997 als ein beispielhafter Künstler für eine Kunstpraxis der 1990er. Deren Hauptmoment waren die Möglichkeiten des Zusammentreffen von und der Dialoge zwischen Menschen, eben eine Auseinandersetzung mit zwischenmenschlichen Relationen als Möglichkeit für ein aktives Handeln im Hier und Jetzt. Der Palais de Tokyo eröffnete 2002 mit Bourriaud als Kurator und dem Anliegen, ein Laboratorium für experimentelle, unabgeschlossene Kunst zu sein. Architektonisch machte er das an einer unfertigen Rohbauästhetik ohne White Cube deutlich. Insofern passen Eingriffe, die gezielt auf den Ort eingehen und die BesucherInnen umherirrend gemeinsam den Raum erfahren lassen, zum Gründungsprogramm des Palais.  

Aber eigentlich kommen einem in dieser Ausstellung nicht die Klischees der Ésthetique Rélationnel entgegen. Was einen mehr und mehr umfängt, ist eine Retrospektive als Ausstellungskonzept, das Raum, Werke, und Thema als großes Ganzes behandelt, in dem die Werke in eine neue Kommunikation treten und Teil eines Rhythmus werden. Das Faltblatt nennt es einen “vast automaton”, und diese Maschine wird auch ziemlich schnell präsent: Die flackernden Lampen vom Eingang sind über die ganzen Ausstellungsräume verteilt und miteinander verbunden, indem sie sich gemeinsam auf eine Struktur beziehen. Die Nähe der Lampen zu anderen Arbeiten kann manchmal beinahe als störend empfunden werden, doch nach einer Weile stehen die einzelnen Werke sowieso nicht mehr für sich, ihre gegenseitige Beeinflussung ist wie das Ineinandergreifen der Zahnräder. Mehrere Klaviere sind im Gebäude platziert, ihre Tasten beginnen plötzlich zu spielen, auf etwas in der Ausstellung reagierend, dass unbekannt bleibt – diese Klaviermusik begleitet, führt, zieht die Besuchern und den Besucher geradezu weiter. Beim näheren Hinsehen entpuppen sich die Titelschilder als kleine Bildschirme, auf denen Zitate, Kommentare und Betitelung sich abwechseln.  

Ich stimme also zu: Ich fühle mich wie in einem Uhrwerk. Es tickt, es funktioniert als ein Apparat, der visuell und auditiv präsent ist, der den Besucher choreografiert und spannende Effekte auslöst. Durchbrochene Wände und poröse Decken sorgen dafür, dass Ton und Licht von einem Raum zum anderen, von einem Stockwerk ins andere dringen. Nach dunklen Hallen ohne Raumgefühl tritt man plötzlich wieder in eine lichtdurchflutete Aula, mit Blick durch die Fenster nach draußen auf den terrassenartigen Platz vorm Palais de Tokyo – mittendrin eine platzierte Schiebetür mit Soundscapes, die eben dort draußen aufgenommen wurden. Das Umherwandern hinterlässt ein Gefühl, als ob der Mechanismus des Automaten nicht restlos erklärt wird. Etwas bleibt geheimnisvoll, anders, so wie die surrende und dampfende Maschine des genialen Erfinders etwas Kühles und zugleich Magischen an sich hat.  

Also versuche ich tiefer einzudringen.  In einem dunklen Raum leuchten Poster an den Wänden, die nicht zu Ende geführte Arbeiten abbilden. Sie verblassen langsam, denn die Drucke sind nur sichtbar, wenn sie Licht ausgesetzt werden. Dieses wird grell für ein paar Sekunden eingeschaltet, wenn fast nichts mehr zu sehen ist und die BesucherInnen erkunden hastig den Raum genauer – vor allem das Bücherregal in der Wand, das drehend eine Geheimtür offenbart. Es wurde von der Künsterlin Dominique Gonzales-Foerster mit Inhalt ausgestattet. Dahinter tritt man in einen kleinen Raum, in dem ein Reenactment einer Ausstellung der Margarete Roeder Gallery in New York von 2002 stattfindet. Jeden Tag wird eine Zeichnung von Merce Cunningham gegen eine von John Cage ausgewechselt, bis die Ausstellung Cunninghams eine Cage Ausstellung geworden ist. Dann geht es wieder anders herum. Ein lebenslanger Austausch zwischen den Lebenspartnern soll so fortgeführt werden. Um herauszutreten, warte ich anfangs unsicher darauf, dass das Regal sich wieder bewegt und bin wieder im Dunkeln; dann finde ich Spaß daran, auszutesten, ob ich selbst die Drehtür bedienen kann und schiebe mich aus dem Raum hinein und heraus. Bis ich die Treppen heruntersteige, auf der Suche nach dem nächsten Klavier und angezogen vom mir bereits bekannten Flackern. Ein tiefschwarzer Durchgang, dessen Dimensionen kaum zu erahnen sind, lädt zum Verweilen ein. Seine Decke ist bestückt mit unterschiedlich geformten Marquisen, wie man sie von Ankündigungen an Kino- oder Theaterfassaden kennt. 

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Die Glühbirnen blinken an jeder einzelnen Marquise in einem anderen Rhythmus auf. Als wäre es ein Morsecode schaue ich aufmerksam zu, gleichzeitig bin ich ergriffen von einem Gefühl, dass sich in kalten Nächten beim Warten vor besagten Kinos oder Theaterstätten einstellt. Das kommt auch durch die anderen BesucherInnen, die unter den Lampen hindurchspazieren; sie ergeben einen Fluss von Kommen und Gehen, von An- und Abwesenheit. Das An und Aus der flackernden Lampen sowie der Marquisen folgt dabei den Tempi und Motiven Igor Stravinskys Petrushka, a Burlesque in Four Scenes (1911), einem Ballett, in dem Marionettenpuppen durch das magische Flötenspiel des Gauklers zum Leben erweckt werden. Wenig später stehe ich vor einer bühnenartigen Bodenplatte, aus der heraus Aufnahmen von TänzerInnen der Cunningham Company zu ertönen scheinen. Man hört sie näher kommen, springen, schleifen. Aber sie bleiben abwesend. Can we Know the Dancer from the Dance? fragt der Titel.  


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Oft setzten sich die Inhalte der hier gezeigten Arbeiten oder ihre Umsetzung im Raum mit einer geisterhaften Präsenz auseinander, und in ihrer Verbindung zur Gesamtschau erzeugen sie unentwegt dieses Gefühl von etwas Nicht-Greifbarem. Das lässt mich an den Titel denken: Anywhere, Anywhere out of the World stammt von einem Gedicht Thomas Hoods, aufgegriffen und übersetzt von Charles Baudelaire. Diese Abfolgen – etwas zu hören, wiederzuverwenden, zu verwandeln, zu übersetzen – werden auch in der Maschine Parrenos immer präsenter. Der Titel rekurriert auf existenziell bekannte Gefühle: Auf An- und Abwesenheit, auf Imagination und Verkörperung, die sich aber, melancholisch, eher in der Erinnerung abspielen oder eben in der poetischen Versprachlichung eines Gedichtes.   Die emotionale Ergriffenheit bleibt immer etwas Erzeugtes, bei jedem Geist kann man fragen, ob es sich um Leben oder eine wandelnde Hülle handelt – No Ghost, Just the Shell (1999-2003) ist ein Projekt, in dem Parreno gemeinsam mit Pierre Huyghe die Rechte für Annlee, die Hauptperson des Mangas Ghost in the Shell erwarben und Künstler dazu einluden, zu dieser Figur etwas auszuarbeiten. Das Video Parrenos und Huyghes selbst zeigt eine animierte Frauengestalt mit übergroßen Augen und sanfter Computerstimme, die eben das behauptet: Nur eine Hülle zu sein. Die BesucherInnen ruhen auf einem Teppichboden, der zur wandfüllenden Projektion hin abfällt und lässt sich gerne überzeugen – nach Ende erscheint allerdings eine lebende Performerin, ein junges Mädchen (eine Arbeit von Tino Seghal), die über die gleiche Thematik spricht. Es ist dieses Stadium zwischen Fiktion und plötzlicher Realität, was das Magische der Ausstellung ausmacht. Und so bleibt ein Gefühl, als würde die animierte Annlee sich, sobald ich den Raum verlasse, kichernd über mich lustig machen und wie in Harry Potter hinüber zur Videoarbeit Marilyn laufen, um aus einer Ecke zu beobachten, wie ich Marilyn beobachte. Dieser Film zeigt Eindrücke das Waldorf Astoria Hotels in New York, in dem Marilyn Monroe in den 50er Jahren lebte. Die Kamerafahrt suggeriert, die Zimmer mit ihren Augen zu sehen, ihre Schrift beim Schreiben zu betrachten und ihre Stimme zu hören, die vom Computer nachempfunden wurde. Wieder handelt es sich um einen Geist, der niemals auftaucht. Am Ende sieht der Zuschauer, dass der Film in einem Studio gedreht wurde und dann einen Schneehügel hinter der Leinwand – er selbst befindet sich in einer Filmset ähnlichen Kulisse. Eine DVD mit Marilyn kann jeder kostenlos mitnehmen – allerdings wird der Film nach dem Anschauen gelöscht werden.  

Claire Bishop veröffentlichte 2004 in der Zeitschrift October eine Kritik an der Ésthetique Rélationnel Bourriauds und seinem Begriff vom Labor als neue Herangehensweisen der Kunstkritik und des Kuratorentums. Sie war scharf und treffend: Bishop forderte die Auseinandersetzung mit den Inhalten des Dialogs, mit der Frage, für wen und warum dieser Dialogs stattfindet, anstatt den Dialog an sich als ausreichendes Label zu betrachten. Außerdem sah sie eine problematische Nähe zum Event und Entertainment. Nun hat Parreno mit dem Palais de Tokyo ein großes gestalterisches Experiment geschaffen, und wenn auch nicht primär Orte der Interaktion und des Auslotens von Relationen, so arbeite er mit Momenten der Magie und mit vielen visuellen und auditiven Effekten. In dieser Herangehensweise ähnelt er seinem befreundeten Künstler Pierre Huyghe, der gerade im Centre Georges de Pompidou ebenfalls eine kompakte Rundumgestaltung vorgenommen hat.  

Nach beiden Ausstellungen ist es, als würde ich wieder auftauchen aus Etwas, das mich umwoben und eingenommen hat, ein von allen Seiten, von Oben und Unten durchdachter Ort. Doch bei beiden ist da noch mehr als das Label Sozialität und mehr als Staunen erzeugendes Entertainment. Und es ist auch mehr als eine, man könnte sagen, intellektuelle Erfahrung – denn auch die vielen Zitate und Bezüge zu anderen Künstlern, Kuratoren, Musikern und Werken formen sich zu einem vast automaton. Philippe Parreno und Pierre Huyghe rufen sich mit ihren retrospektiven Einzelausstellungen quer über das erste und vierte Arrondissement in Paris ihre Witze zu. Es sind Insider-Witze, deren Pointe ich erahne, die mich schmunzeln lassen, die ich aber nie ganz greifen kann. Dennoch wirkt die Ausstellung auch ohne diese Bezüge, und diese sind mehr ein Einblick in eine Arbeitsweise. Die ganze Maschine wirkt mal wie etwas von der starken Position des Künstlers Erschaffenes, dann wie etwas vom Künstler Gelöstes, eben mit einem Geist erfülltes, dann wieder nur wie eine Hülle, die ihr eigenes Konstruiertsein darbietet. Das Erzeugen von Effekten offen zu legen ist nun kein besonders neuer Schachzug. Dennoch, in der getakteten Gesamtschau frage ich mich, mit was das Publikum eigentlich konfrontiert wird – mit einer Kulisse, mit einem Geist? Mit der Melancholie, die sich gerne darauf einlässt, die Kulisse mal als magischen Geist zu verstehen und mal den Geist destruktiv als Kulisse zu entlarven? Parreno hat kein harmonisch tickendes Uhrwerk geschaffen, in dem man selbst Abschalten kann, trotz aller Mechanik, die perfekt abgestimmte ineinandergreift und in der ich eher eine Erkundende denn eine Handelnde bin. Eine erklärende und Überblick bietende Aneinanderreihung ihrer Werke, wie Retrospektiven es oft anstreben, sollte man nicht erwarten. Ähnlich wie in David Lynchs Filmen ist ein verstörendes und zugleich humorvolles Unbestimmtes anwesend, das mich berührt hat.