CouldaWouldaShoulda
by Mona Altmann
Leicht geöffnete Jalousien formen ein Labyrinth aus circa 30 kleinen Kabinen und verwandeln die Bühne der Sophiensäle in ein utopisches Callcenter. Sobald alle TeilnehmerInnen in je einer der freien Kabinen, in denen sich jeweils ein Hocker und ein Telefon befinden, Platz genommen haben, kann die Hörspielperformance des Kollektivs Interrobang und damit ihr ‹Entscheidungstrainingscenter der Zukunft› beginnen. Die einzige Regel lautet: Nicht auflegen!
Das Telefon am Ohr beginnt meine Telefonreise mit einer Stimme, die mich im Audio-Travel willkommen heißt. ‹Und wohin soll es diesmal gehen?› Das Drücken der Tasten auf dem Telefon führt mich von einer Entscheidung zur nächsten und so reise ich über die Pyrenäen, unterhalte mich mit einem Maultier und beharre in den Alpen durch mein ständiges 2 Drücken darauf, die Aussicht zu genießen, bis mir schließlich keine andere Wahl bleibt, als aus der Gondel in den Tod zu stürzen. Nachdem ich noch ein Lied für meine eigene Trauerfeier auswählen darf, führt der von eingespielten Zitaten begleitete Entscheidungstrip weiter über die Suche nach der wahren Liebe bis hinein in die Tiefen der dunklen Dimension.
‹Wähle die 1 … dann wähle die 2.› Während ich im Drücken der Telefontasten innerhalb meiner Kabinen-Anonymität immer routinierter werde, finde ich mich plötzlich in einer Telefonkonferenz mit einer anderen Teilnehmerin wieder. Ich war beim Clubschiff Arche-Noah angekommen, das seiner biblischen Vorlage entsprechend nur als Paar betreten werden darf. Plötzlich ertappe ich mich dabei, wie ich mit ihr über persönliche Dinge rede. Woher kommt diese Intimität? Liegt es am Telefon, das mit Nähe verbunden ist, oder an der Anonymität, die mir meine Kabine bietet? Kurz nachdem unser Gespräch vom Callcenter Management abgebrochen wird, werde ich dazu aufgefordert eine/n KabinennachbarIn meiner Wahl in Gedanken auszuziehen. Handelt es sich beim Drücken der Telefontasten um ein bloß fiktives Spiel, bei dem es nicht schwer fällt die Entscheidungen von der eigenen Person abzutrennen, verschwimmt in diesen temporären Gemeinschaften die Grenze zwischen Realität und Fiktion. Die Handlungsmöglichkeiten werden mir hier zwar nicht auf einem Silbertablett serviert, aber Entscheidungen muss ich trotzdem treffen. Meine Wahl ist auf eine Frau in einer der Kabinen neben mir gefallen. Während ich in Gedanken an ihre Brüste fasse, treffen sich unsere Blicke. Sie scheint sich auch für mich entschieden zu haben. Leicht verunsichert durch ihr Lächeln frage ich mich, ob das was ich mache in Ordnung ist, nur weil es mir von einer erotischen Stimme über das Telefon ins Ohr gehaucht wurde und wir uns schließlich im Theater befinden? Kann ich die Verantwortung einfach abwälzen oder liegt sie doch ganz bei mir?
Als wir am Ende des 90-minütigen Entscheidungslabyrinths dazu aufgefordert werden, den Hörer aufzulegen und die Jalousien nach oben zu ziehen, bleibt das seltsame Gefühl zurück, Teil einer kollektiven Erfahrung gewesen zu sein. So bleibt mir aus den unzähligen eingespielten Zitaten am Ende doch vor allem eines in Erinnerung: ‹Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also im Bereich des Politischen und des Handelns.› Es stammt aus Hannah Arendts Vortrag Freiheit und Politik, in dem sie die Wahlfreiheit als bloße Verwirklichung eines Programms beschreibt. Es ist genau diese Wahlfreiheit, welche Callcenter Übermorgen zwar vorgibt zu trainieren, eigentlich aber ad absurdum führt. Wirkliche Freiheit realisiert sich für Arendt erst im Vollzug des gemeinsamen Handelns. Sie bedarf als Grundlage einer politischen Debatte jenseits von vorbestimmten Mustern und Positionen, denn erst so eröffnet sich die Möglichkeit, wirklich Neues zu schaffen. Eine Diskussion hat Callcenter Übermorgen auf jeden Fall hervorgerufen, denn noch lange nach der Vorstellung vermischen sich im Raucherraum Fragen nach Verantwortung bei der Begegnung mit anderen mit dem Zigarettenqualm. Wie und ob die von Arendt beschriebene Freiheit außerhalb des Theaters umsetzbar ist, bleibt jedoch offen.