Bis daß die Hände man euch scheide… Das Gemeinsame und das Geteilte in den Bildern und Objekten des Künstlerduos Quirarte + Ornelas

von Lukas Baden

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Bei Kunstwerken, die von einem Künstlerkollektiv geschaffen wurden, drängt sich immer schnell die Frage in den Vordergrund, wer denn welchen Anteil an der Arbeit gehabt habe. So zentral scheint der Aspekt der Arbeitsteilung (und damit in vorauseilendem Gehorsam die Möglichkeit der eindeutigen Leistungsbestimmung) in unserer Gesellschaft geworden zu sein, dass man sogar ästhetische Aspekte bei der Betrachtung von Kunstwerken zunächst nachstellt. Auf der einen Seite wird in allen Lebensbereichen Transdisziplinarität und Kollaboration gefordert oder zumindest behauptet; auf der anderen Seite verursacht das Wissen um eine gemeinsame Urheberschaft ein merkwürdiges Unbehagen. In diesem Text soll es darum gehen, was die Wiederverzauberungsrhetorik des ‹iconic turn›, des letzten großen Paradigmenwechsels in den Geisteswissenschaften, mit der Frage nach einer geteilten Autorschaft zu tun haben könnte.

Der Verwischung der Grenzen zwischen den verschiedenen Subjektivitäten setzt das mexikanische Künstlerpaar Quirarte + Ornelas bewusst eine streng sachliche, umrissbetonte Ästhetik entgegen. Ihre Bilder und Objekte sind in ihrer Sprödigkeit und Nüchternheit, in ihrem virtuosen Naturalismus von geradezu demonstrativem Wesen.1 Alles an ihnen ist Präzision; sie sind die Fortsetzung der Stillebenmalerei, bereinigt um deren symbolische Mittel.2 Dennoch machen die Glätte der Aquarellzeichnungen und die Genauigkeit der Kleinplastiken etwas stutzig.

Widersprüche auf mehreren Ebenen machen die Arbeiten von Quirarte + Ornelas interessant. Zunächst lässt sich bei den neueren Arbeiten eine starke Auseinandersetzung mit dem Problem der Präsentation und der Repräsentation im Sinne einer semiologischen (Ähnlichkeit, Spur, Konvention) und einer phänomenologischen Gegenüberstellung beziehungsweise Ausdifferenzierung feststellen. Dies wird durch die gleichzeitige und gleichwertige Präsentation eines Gegenstandes oder Dings als Objekt und als Zeichnung hervorgebracht. Dann – und dies lässt sich formal auch an älteren Arbeiten nachweisen – geht es dem Künstlerduo um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des gemeinsamen Gestaltens, d.h. des Zurücktretens des Individuums zugunsten eines agierenden Dritten. Dabei werden sowohl Fragen nach der Reziprozität zwischen Künstler und Künstler, zwischen Künstler und Kunstwerk, zwischen Kunstwerken und Betrachtern, zwischen Kunstwerken und Kunstwerken, als auch nach den Rahmenbedingungen der Prozesse gestellt, die diese gegenseitigen Wahrnehmungen bestimmen. Nicht zuletzt hängt vom Funktionieren dieser Bezüge auch die Positionierung des Künstlerduos im Kunstbetrieb ab.

Die künstlerische Behandlung der Frage nach der Individualität (Unteilbarkeit) der Person und des Gegenstandes vollzieht sich durch eine hochgradig naturalistische3 Malweise. Individualität wird gerade in der sie scheinbar affirmierenden Malweise als Konstruktion und Konvention entlarvt. Auf der einen Seite steht die Annäherung an den Gegenstand als Bild-konstruktives Element bei Beibehaltung einer fast täuschend echten Gegenständlichkeit in der Malerei. Auf der anderen Seite erfolgt durch die Darstellung des Gegenstandes in einer seinem gewohnten Gebrauch entfremdeten und einer Verwendung im konstruktivistischen Sinn angenäherten Art und Weise eine Distanzierung von der Idee des Gegenstandes als individuellem Objekt. Durch die extrem saubere und sorgfältige Malweise wird dabei in einer parallelen Bewegung (oder Überlegung) gleichzeitig eine Wiedererkennbarkeit im Sinne eines Stils4 geschaffen als auch gerade das Individuelle, was traditionell oft anhand einer persönlichen Spur oder Geste am Werk festgemacht wird, vermieden und damit die Instanz des Künstlers als individuellem, genialem Erschaffer in Frage gestellt. Bei aller Affektlosigkeit, um die sich das Künstlerduo bei der Schaffung seiner unspektakulären Assemblagen bemüht, kann ein gewisses komisches Moment nicht vermieden werden, wenn die scheinbar interesselos wohlgefälligen Zusammenstellungen in unerwartete Wiedererkennenszusammenhänge umkippen. Einleuchtende Beispiele sind die sorgfältig geformten Papierknäuel, die von Bleistiften kreuz und quer durchbohrt werden5 und die verspielten Strukturmodelle aus teilweise bemalten geometrischen Pappstücken und -rohren in oft prekärem Gleichgewicht. In ersterem Fall scheint – vielleicht doch allegorisch – vom Scheitern, der doppelten Verwerfung einer Idee (zerknüllt und zerstochen), gerade der eigentliche Anstoß für das Werk auszugehen. Im zweiten Fall wird das erhabene Prounenvokabular von El Lissitzky so durchkonjugiert – metaphorisch ausgedrückt –, dass man unfreiwillig an die fröbelschen Bauklotzspiele aus der Kindergartenzeit denken muss.6 Es scheint, als wollten die Plastiken und Zeichnungen durch ihre technische Klarheit und thematische Unaufgeregtheit den Betrachter zunächst über die Merkwürdigkeit der Situation hinwegtäuschen, in der sie ausgestellt sind. Gegeben sind: ihre Ähnlichkeit, ihr quasi doppeltes Vorhandensein,7 ihr gegenseitiges Versteckspiel zwischen Nominalismus und Realismus.8 Was man auf den Bildern sieht, ist die Beobachtung des Objektes. Umgekehrt könnte man auch behaupten, in den Objekten die Beobachtung der Bilder zu sehen. Die Ordnung der Beobachtung hebt sich im wechselseitigen Ähnlichkeitsverhältnis auf. Als Ausstellungsbesucher begegnet man dem Papierknäuel mit den gekreuzten Stiften gleichzeitig als Papierknäuel mit gekreuzten Stiften und als Stift auf Papier, also sowohl als Präsentation in Form eines Objektes als auch als Repräsentation in Form einer aquarellierten Zeichnung. Fand diese Gegenüberstellung ihren Ausgangspunkt in einem Moment gelangweilten Herumspielens in Gedanken oder mit den Produktionsbedingungen? Idee, Zeichnung, Objekt – wie beliebig ist diese Reihenfolge? Wie weit können wir das Denken vor- oder zurück, hin- und herdrehen? Wo beginnt die Figuration zwischen Abstraktion und Konkretion? Und wie lässt sich diese zeichentheoretische respektive phänomenologische Fragestellung mit der Frage nach dem Kollektivsingular im Künstlerduo verbinden?

Bevor die Ikonologie in der Kunstwissenschaft den ersten methodologischen ‹turn› einleitete, hatte man in dem bis dato noch jungen Fach alle Energie darauf verwandt, einzelne Kunstwerke bestimmten Künstlern zuzuschreiben. Die (anachronistische und sicher auch etwas paradoxe) Voraussetzung für das Faltenzählen und Händescheiden war9, daß man vom Erschaffer als Individuum ausging, das als Genie, bei unbestreitbarer immanenter Wirkung, die von den Werken ausging, auch von irgendeinem Zugang zur Transzendenz profitierte. Der talentierte Schöpfer ist eine semi-säkularisierte Vorstellung, die zwischen der frühen Neuzeit und der späten Moderne das Paradigma des Werdens und Entstehens menschlicher Werke bestimmte. Der ‹linguistic turn› setzte dieser bürgerlichen Projektion allerdings ein Ende. Aus dem Subjekt wurde eine Schnittstelle.10 Aber man wurde das Gefühl nicht los, dass man etwas übersehen hatte. Mit der letzten Drehung stand man dann wieder bei der Anfangsfrage: Irgendeine Kraft muß doch alles in Bewegung setzen. So ist der ‹iconic turn› eine erkenntnistheoretische Interpolation11 für intransparente Gegenseitigkeitsverhältnisse. Müssen wir uns vom Individualitätsprogramm der Moderne nun verabschieden und wieder in eine von geheimen Bezügen bestimmte Ordnung des Universums und der Gesellschaft zurückkehren? Oder besteht noch Hoffnung auf ästhetische Gerechtigkeit? Wie können wir uns uns gegenseitig in Autonomie zuwenden? Unter welchen Rahmenbedingungen nehmen wir wahr? Ist Freiheit nicht – frei nach Immanuel Kant – die Freiheit, sich selbst einen Rahmen zu geben? Welche Ansichten, welche Perspektiven sind ohne das gesetzte Fortschreiten von Punkt zu Linie, Fläche, Raum, Zeit und Kausalität möglich?

Quirarte + Ornelas nehmen wechselnde Perspektiven ein und zeigen ihr Werk unter verschiedenen Blickwinkeln, bei denen sie selbst (vielleicht) verschwinden. Erstens die Gegenüberstellung von ähnlichen Erscheinungen als Kleinplastiken und Aquarellzeichnungen, zweitens der überindividuelle Malgestus in Verbindung mit einer illusionistischen Darstellungstechnik (bis zur Ausreizung der Grenzen des ‹suspension of disbelief›), drittens (und wiederum) die Trennung und Rahmung innerhalb der Grenzen der Papierarbeiten: Sie zeigen die Gegenseitigkeit und Gegensätzlichkeit jedes Bedingungsverhältnisses auf. Formal werden die Repräsentationen der Kleinplastiken auf den Bildgründen isoliert – man könnte sagen, freigestellt – dargestellt; der Schlagschatten darunter wirkt latent obsolet bis selbstverloren; vielleicht ist er aber auch eine stille platonische Reminiszenz auf die Idee der Idee und den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Vorstellungsunmündigkeit. Die aktuellen Kombinationen aus Zeichnungen und Objekten des Künstlerduos Quirarte + Ornelas sind auf natürliche Weise selbstbezüglich; sie drehen sich um das, was die Künstler machen, und mit was sie es machen: Das Zeichnen und seine Werkzeuge. Zumindest in ihren jüngsten Arbeiten haben sie die Mittel der Beobachtung mit der Beobachtung konsequent kurzgeschlossen.12 In dieser Verschränktheit hebt sich auch der geteilte, d. h. gemeinsame Blick aus vier Augen auf, und die künstlerische Kollaboration, die Arbeit zweier Hände, spielt ganz intim ein gesellschaftliches Muster durch, nach dem wir uns alle sehnen: Rechtfertigung in der Gegenseitigkeit – das Glück im gemeinsamen Blick und im geteilten Bild.

 

Quirarte + Ornelas: Drawing structures 2, 2013, Bleistift und Papier, Maße variabel. Photo: Quirarte + Ornelas.

 

Quirarte + Ornelas: Drawing Structure 3, 2012, Aquarell auf Papier, 6-tlg., 208 x 235 cm, Sammlung APT (Artist Pension Trust) México. Photo: Quirarte + Ornelas.
 

Quirarte + Ornelas: Interpolación lineal, Ausstellungsansicht, Galerie Tira al Blanco, Guadalajara, México. Photo: Quirarte + Ornelas.

 

Quirarte + Ornelas: Interpolación lineal, Ausstellungsansicht, Galerie Tira al Blanco, Guadalajara, México. Photo: Quirarte + Ornelas.

 

Quirarte + Ornelas: Extrapolación 2, 2015, Aquarell auf Papier, 29 x 39 cm.
Photo: Quirarte + Ornelas.


Lukas Baden
*1980
currently living in Mexico City
professional: http://www.ferenbalm-gurbruestation.de/
academic profile: http://kunstwissenschaft.hfg-karlsruhe.de/users/lukas-baden

  • 1. Sie vermeiden das Psychologische ebenso wie den magischen Realismus oder das Phantastische, das die Werke von Muntean / Rosenblum beziehungsweise Los Carpinteros, die denen von Quirarte + Ornelas sowohl ästhetisch als auch in ihrer Produktionsweise nahe stehen, so faszinierend macht.
  • 2. „Ein realistischer Touch Stillebenmalerei als Traditionsbegründung eines klaren Tages mit freiem Horizont. Daher das coole, unrebellenhaft Seriöse, das glatt Affektierte, das sachlich Reflektierende – Malerei als moralisch intellektueller Stützpunkt.“ Axel Heil: ‹Anabel Quirarte & Jorge Ornelas›, in ‹Leinzell OPEN 2006›, Leinzell 2006.
  • 3. Die Künstler selbst bezeichnen ihre Malweise als realistisch.
  • 4. Der Bildausschnitt, die Auswahl der Gegenstände und ihr Arrangement spielen bei der Herstellung eines „Signaturstils“ natürlich auch eine Rolle.
  • 5. Abbildungen: Drawing Structure 2, 2012. Aquarellfarbe auf Papier, 6-teilig, 208 x 235 cm, und Drawing Structure 2, 2013. Bleistifte und Papierknäuel, Maße variabel.
  • 6. Abbildungen: Extrapolación (Objetos), 2015. Karton, Kunststoff, Metall, Baumwollfaden. Maße variabel.Extrapolación 2, 2015. Aquarellfarbe auf Papier, 29 x 39 cm.
  • 7. Amanda De la Garza bezieht sich in ihrem Text über die Werke von Quirarte + Ornelas mit „duplicidad“ (das doppelte Vorhandensein) vor allem auf die beiden Künstler-Subjekte und die Rolle des Affekts im Schaffensprozeß sowie in der Bildwirkung. Meines Erachtens tritt dieses doppelte Vorhandenseins in den Werken weniger affektiv als durch das intellektuelle Spiel zwischen Objekt und Repräsentation in ein produktives Spannungsverhältnis. Vgl. Amanda de la Garza: ‹El Espacio de Lo Cotidiano. Arte-Colaboración En Pareja›, in: Revista Tierra Adentro, 2013, S. 40.
  • 8. Trotz des hohen Illusionismusgrads der Aquarelle respektive Zeichnungen würde ich bei Quirarte + Ornelas für eine Sichtweise plädieren, die die Werke eher den Fragestellungen der konkreten respektive konzeptuellen Kunst zuordnet. Der Universalienstreit und Joseph Kosuths One and three Chairs (1965) sind ihnen näher als jeder andere Ausdruck zeitgenössischen Naturalismus’.
  • 9. Mechthild Bellmann-Schöner: ‹Anfänge Der Niederländischen Tafelmalerei - Händescheidung›, Mai 2012. https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/kultur/vertiefung/t…, 10.07.2015.
  • 10. Gerhard Johann Lischka: ‹Schnittstellen : Das Postmoderne Weltbild› [Symposion Schnittstellen; Vortrag Im Kunstmuseum Bern Am 4. November 1994]. Bern 1997.
  • 11. Ariadna Ramonetti überträgt die mathematische Operation der Interpolation einer Funktion auf das Gebiet der geometrisch-konkreten Kunst („Si llevamos esta idea al terreno de la geometría concreta …“), und beschreibt so die Werke von Quirarte + Ornelas als „ejercicios volumétricos“ (volumetrische Übungen). Im quasi tomographischen Verfahren füllen sie zwischen den gegebenen Extremen – Punkt, Linie, Fläche, Raum, Zeit / Präsentation und Repräsentation – die Dimensionen aus. Ariadna Ramonetti: „Interpolación Lineal“. Kuratorischer Wandtext zur Ausstellung Quirarte + Ornelas: Extrapolación- Estructuras complementarias in der Galerie Tiro al Blanco, Guadalajara, México, 2015.
  • 12. Die Selbstbeschreibungstechnik von Quirarte + Ornelas ist ein Produkt der Autonomie und Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Ihre Kunstwerke sind in dem Sinne autopoietisch, als dass sie sich streng auf sich selbst beziehen und aus dieser Selbstbezüglichkeit ihre Kraft schöpfen. Sie erfüllen ihre Funktion als Kunst, indem sie Kommunikationsprozesse anstoßen. Vgl. Niklas Luhmann.: ‹Die Kunst Der Gesellschaft›, Frankfurt am Main 1995.