Reciprocal Turn (J.Z.)

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet ein -ismus eine für die jeweilige Zeit tonangebende Strömung in der Kunst, so zum Beispiel der Expressionismus, der Kubismus und der Surrealismus. Nach dem zweiten Weltkrieg sind die -ismen verschwunden. Die Zeit der historischen Avantgarde ist vorbei. 

Doch die jeweilige Zeit überragende Strömungen gibt es weiterhin. Heute werden sie, ausgehend von Richard Rortys Essay “Der Spiegel der Natur” (1987) und seinem Begriff des linguistic turns, als turns, als Wendungen bezeichnet. Turns bezeichnen aber, im Unterschied zu einem -ismus, nicht das Programm, das von einer Künstlergruppe ausgeht, sondern einen Paradigmenwechsel. Von einer Geisteswissenschaft ausgehend benennt ein turn eine aktuelle Problematik. Der erste, der linguistic turn, ist der Analytischen Philosophie zuzuordnen. Denn die von ihm ausgehende Analyse der Sprache ist nicht nur innerhalb der Linguistik diskutiert worden, sondern hat viele Geisteswissenschaften beeinflusst.  

In der Kunsttheorie weicht, ebenfalls um die späte Mitte des 20. Jahrhunderts, der Begriff der geschlossenen Werkästhetik, über den das Kunstwerk definiert wird, dem Begriff einer offenen Erfahrungsästhetik.1 Die Kunst wird von nun an nicht mehr in ihrer Objekthaftigkeit begründet, sondern sie konstituiert sich durch das ästhetische Erlebnis. Die Verwendung neuer Begriffe für Strömungen in der Kunst fällt mit der Veränderung des Begriffes des Ästhetischen zusammen. Ein  -ismus beschreibt eine definierte Bewegung, von den schaffenden Individuen ausgehend gedacht, wohingegen ein turn, von der Theorie ausgehend erdacht, auf eine Tendenz aufmerksam macht und sie theoretisch unterfüttert, ohne sie endgültig abzustecken. Im Kern wird mit dem Begriff des turns jedoch dasselbe Phänomen beschrieben wie zuvor mit dem -ismus: Eine aus der jeweiligen Zeit entstandene, für sie charakteristische, sowie die folgende Kunst maßgeblich beeinflussende Strömung in den Künsten.  

Vom linguistic turn ausgehend, wurde über den iconic turn, den performative turn und den spatial turn schon viel gewendet. Seit dem vergangenen Sommer 2013 wird mit dem Begriff des reciprocal turns eine Tendenz in der Kunst umschrieben, die keineswegs neu ist, aber in den letzten Jahren verstärkt diskutiert wird. Als reziprok wird Kunst bezeichnet, die sich auf andere Kunstwerke oder den Kunstkontext im Allgemeinen bezieht und nur wegen dieses Bezuges, wegen dieser Referenz überhaupt als solche rezipiert wird. Das Kunstwerk, das nur im Bezug auf den Markt und seine Akteure, auf die Sammlerschaft, die Museumslandschaft oder das Galerienmeer besteht, ist reziprok. Der reciprocal turn benennt eine Tendenz in der Kunst des 21. Jahrhunderts, die sich dadurch legitimiert, dass sie sich unreflektiert und unkritisch auf ihre Geschichte und ihr Umfeld bezieht. Der Begriff bezeichnet eine Wende, die in den letzten Jahren schon viel kommentiert wurde, er ist lange überfällig.2  

Um des Lernen Willens war es immer üblich, und so ist es auch heute noch, von dem bis dato Geschaffenen zu kopieren und so die Technik oder eine Idee zu verstehen und zu verinnnerlichen. In der heutigen Zeit glauben wir nicht mehr – so wie es der Sturm und Drang vertrat und die Romantik tat – an das reine, kreierende Genie. Dass es Genies an sich nicht gibt, die ein für sich stehendes Meisterwerk aus dem Nichts schaffen, ist heute ein Allgemeinplatz.3 Dieses völlig von der Welt gelöste Kunstwerk, wie es am klarsten die “Lehre vom l’art pour l’art, die eine Theologie der Kunst ist”4 fordert, gibt es nicht. Der Glaube an das reine Kunstwerk ist die Verweigerung der Einsicht, dass wir Menschen soziale Wesen sind, die sich permanent in einem wechselseitigen Fluss austauschen, beeinflussen und sich aus diesem konstituieren, sowie aus diesem Neues schaffen. Aber dieses Neue schöpfen die Schaffenden nicht aus dem Nichts. Aus der Idee der L‘art pour l‘art ist “weiterhin geradezu eine negative Theologie in Gestalt der Idee einer ›reinen‹ Kunst hervorgegangen, die nicht nur jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt.”5 Diese totale Verweigerung ist das entgegengesetzte Beispiel zu der rein reziprok-referentiellen Kunst. Woran es der Ersten vollkommen mangelt, hat die Zweite im Überschuss: die Anerkennung des Verwebtseins des Menschen in ein größeres Geflecht, das sich Kultur oder Gesellschaft nennt. Reziproke Kunst und “reine” Kunst haben jedoch gemeinsam, dass sie sich in der Spähre der Kunst um ihre eigen Achse drehen und drehen, sich aus dieser bilden und auf diese verweisen, ohne darüber hinaus irgendeine Relevanz zu haben. Jedes Kunstwerk ist, nach dem heutigen Verständnis, referentiell – nichts entsteht aus dem luftleeren, neutralen, ursprünglichen Raum, denn diesen gibt es nicht. Doch es gibt Unterschiede in der Art des Referenzierens, und diese Unterschiede entscheiden, ob Kunst reziprok ist oder nicht.  

Es gab in der Vergangenheit schon viele Namen, für die Tendenz, über die nun als reciprocal turn diskutiert wird. Jetzt wird diese Tendenz der selbst-referentiellen Kunst, beginnend mit Celants Reenactment “When Attitudes Become Form, Bern 1969/Venice 2013”, das im Sommer 2013 in der Fondazione Prada in Venedig zu sehen war, als reciprocal turn bezeichnet.6  

Durch das Internet, unseren alltäglichen Begleiter und unsere primäre Informationsquelle, ist alles schon gesehen, schon bekannt und schon gewusst. Das genuin Neues schaffende Genie stirbt seinen endgültigen Tod. Das Internet übt einen Einfluss auf unser Denken und Handeln aus und verändert diese, was auch allgemein bekannt ist. Wir sind Produkte unserer Kultur und deswegen lässt sich alles, was wir sind oder tun, auch wenn es vielleicht nicht so intendiert ist, als Referenz auf etwas bereits Bestehendes entlarven. Diese Art des unweigerlich mit dem Leben verbundenen Referenzierens fällt nicht in den vom reciprocal turn gemeinten Bereich.

Es gibt, wie bereits erwähnt, verschiedene Arten des Referenzierens. Als reziproke Kunst wird bezeichnet, was sich im Referenzieren erschöpft. Sie nimmt den Schritt der kritischen Reflexion nicht, der notwendig ist, um sich über die Verweise hinausreichend das Referenzierte tatsächlich anzueigenen. Im Gegenteil konstituiert reziproke Kunst sich aus ihren Verweisen: “At the moment there is such referential proliferation going on in art that some pieces seem to legitimize themselves only through the interestingness of their references.”7  

Reziprok ist es zum Beispiel, ein Buch dramatisch inszeniert im Museum auszustellen, nur weil es einen interessiert und beeinflusst hat. “I’m amazed by the flood of art pieces I’ve seen lately that consist of a photograph of a book that the artist finds interesting. Or a book in a showcase. Or sculptures that consist of a bookshelf on the wall with a number of books on it. Or a photo of a bookshelf. Or a photo of a book in a showcase. These books might be interesting, but the photos and sculptures are usually not.”8 Reziprok ist es, zu zeigen wie gebildet man ist und wen man alles kennt, und die Kunst so zu instrumentalisieren. Es kann desweiteren reziprok sein, eine vergangene Ausstellung zu reenacten und dieses Reenactment damit zu legitimieren, dass der Schritt eine Ausstellung als Ready-Made zu behandeln, bahnbrechend sei. Als reziprok ist es zudem, wenn Kunst sich an den kunstsystem-immanenten Faktoren oder Themen abarbeitet, sie sprengt, erweitert oder verschiebt. Dass sowohl KuratorInnen als auch KünstlerInnen von dem Symptom des reziproken Arbeitens befallen sind und sie sich gleichermaßen dem Vorwurf stellen müssen, reziproke Kunst zu machen, liegt daran, dass die Grenze zwischen der kuratierenden und der künstlerischen Arbeit verwaschen ist.  

Reziproke Kunst nährt sich aus und erschöpft sich in ihren Bezügen “ohne diese zu problematisieren und ohne darüber selbst Position zu beziehen.”9 Wenn sich die heutige Kunstwelt seicht und ungefährlich um sich selbst dreht, wenn die Kunstwelt vergisst, dass sie nicht nur um ihrer selbst Willen besteht, dann ist die dieser Kunstwelt zugehörige Kunst als reciprocal zu bezeichnen. Sie unterscheidet sich von kritisch-referenzieller Kunst, wie es zum Beispiel die Appropriation Art der 1970er und 1980er war, in der Art der Aneignung von und dem Umgang mit den Referenzen (wie bereits ausgeführt). Dabei ist der Vorwurf an die reziproke Kunst nicht, dass sie aus Faulheit entsteht. Im Gegenteil, reziproker Kunst kann – und muss sehr oft sogar – ein großer Eifer zugrunde liegen. Aber dieser Eifer erschöpft sich in der Selbstgenügsamkeit, und an diesem Punkt setzt die Kritik der Autorinnen an.  

But who the fuck are We – referenzierend oder reflektierend? Reicht es, die Frage zu stellen, ob wir nicht genau das tun, was wir der Tendenz der rein referentiellen Kunst ankreiden: das reine Referenzieren? Ist das Aussprechen dieser Frage nicht ein ganz platter Versuch, sich ebendiesem Vorwurf zu entziehen? Hegel und Eminem haben uns beigebracht, wie man sich unangreifbar macht. Man reflektiert seine Reflexion und macht seine Schwächen zu seinen Stärken. Die Schwäche der Kunsttheorie ist es, zu verkopfen, zu verknüpfen, zu referenzieren. Wir schöpfen die Schwäche der Kunsttheorie aus und reiten die Welle des reciprocal turn.

 

  • 1. vgl. dazu: Dominique Laleg, Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik, in: ALL-OVER, Nr.3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1072
  • 2. vgl. hierzu: Mit den besten Empfehlungen. Ein Roundtablegespräch über “Referenzialismus” in der zeitgenössischen Kunst mit Dirk von Lowtzow, Paulina Olowska, Stephen Prina und Adam Szymczyk, moderiert von Isabelle Graw, in: Texte zur Kunst, Heft Nr.71, September 2008: Künstler Künstler; As We Speak, Interview Cristopher Williams und Willem de Rooij, in: Frieze, Heft 134, Oktober 2010, ( http://www.frieze.com/issue/article/as-we-speak/ ) Andreas Koch, Barbara Buchmaier, Peter K. Koch: Gespräch über Netzwerke, April 2012, in: vonhundert: „Schwierig wird es meines Erachtens erst, wenn das soziale Miteinander selbst zum Programm ausgerufen wird. Kippenberger und später sein Schüler Rehberger am Städel machten das ja vor: kommst du nicht mit zum Saufen, bist du nicht dabei und die bekritzelten Bierdeckel stellen wir morgen aus, aber ohne dich. Dieses Selbstbezügliche in der Kunst, das zur Zeit so sehr nervt, war ja schon immer Teil der Kunst und Teil ihrer Selbstvergewisserung. Der Anteil der referentiellen Kunst ist aber zur Zeit besonders hoch, und man bezieht sich nicht nur auf die erweiterte Moderne, auf andere Arbeiten, sondern gleich auf seine Freunde und den Abend zuvor.“ (http://www.vonhundert.de/index8855.html?id=410&pageID=2); Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.): Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, 2014 transcript Verlag, Bielefeld
  • 3. siehe hierzu: Juliane Rebentisch: „Die modernistische Idee, daß im authentischen Kunstwerk selbst etwas wie Subjektivität gegenwärtig sein muß, darf allerdings nicht im Sinne einer sich im Kunstwerk ausdrückenden Künstler- subjektivität mißverstanden werden. Denn die Vorstellung, daß das Kunstwerk Ausdruck des Künstlersubjekts sei, reproduzierte ja das Problem der subjektiven Verfügungsgewalt über das Objekt auf der Ebene der Produktion. Das ist der ebenfalls ethische Grund für die moderne Kritik an der Genieästhetik – von Heidegger über Gadamer zu Adorno.“ In: Juliane Rebenstisch: „Autonomie? Autonomie!. Ästhetische Erfahrung heute“, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, S.2; http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetz…
  • 4. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, 2012 (??) S. 23
  • 5. ebd.
  • 6. vgl. hierzu: Ausst.-Kat.: Germano Celant (Hrsg.): When Attitudes become Form, Bern1969/Venice 2013, Fondazione Prada Ca’Corner della Regina,Venedig, 2013
  • 7. Christopher Williams, in: As We Speak, Interview Cristopher Williams und Willem de Rooij, in: Frieze, Heft 134, Oktober 2010, ( http://www.frieze.com/issue/article/as-we-speak/ )
  • 8. Willem de Rooij, in: As We Speak, Interview Cristopher Williams und Willem de Rooij, in: Frieze, Heft 134, Oktober 2010, ( http://www.frieze.com/issue/article/as-we-speak/ )
  • 9. Fiona McGovern: Referenz und Appropriation in der künstlerischen Ausstellungspraxis, S. 113, in: Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.): Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, 2014 transcript Verlag, Bielefeld, S.113-136