Der arme Poet oder Die Ikone, die Kirche und zeitgenössische Kunst in Russland

by Dr. Elena Korowin

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In Russland ist ein Poet vielmehr als ein Poet. Es ist sein Schicksal alle Jahrhunderte vor ihm zu vereinen, ein Bild der Zeit zu sein und Richtung Zukunft zu weisen… So beginnt ein Gedicht von Evgenij Evtušenko aus dem Jahr 1965. Die erste Zeile des Gedichts hat in Russland seit Jahrzehnten einen Kultstatus erreicht – jeder hat diese Charakteristik des russischen Poeten auf den Lippen, ohne genau zu wissen, woher sie stammt. Dieser Spruch wird in Russland vor allem dann gebraucht, wenn sich Kulturschaffende und Künstler über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrigen Lohn beklagen. Der Künstler muss nun mal leiden, denn er lässt die Welt durch sich hindurch gehen, um den Menschen ewige Wahrheiten zu offenbaren. Sein Wirken zielt auf die Unendlichkeit und seine Leiden werden belohnt werden. Überraschend ist, dass dieses geflügelte Wort aus dem Werk eines solch ‘jungen’ sowjetischen Dichters stammt, scheint es doch die Bedeutung, die der Künstler in Russland seit Jahrhunderten besitzt, auf den Punkt genau zu treffen.

Der russische Künstler ist auserwählt – mit Leib und Seele ist er seiner Berufung, nicht nur einem Beruf, ergeben. Der Künstler sieht, erkennt, leidet und verkündet wie ein Prophet. Er ist das wichtigste Glied der Gesellschaftskette, sowie es bereits Vasilij Kandinskij in seinem Manifest Das Geistige in der Kunst (1912), inspiriert von der Theosophie der Helena Blavackaja und Rudolph Steiners, proklamierte. Der Künstler soll in der Gesellschaft zu den einflussreichsten Persönlichkeiten gehören, denn er übersteigt den reinen Materialismus, indem er ihn mit dem Geist wieder vereint. Hierin manifestiert sich der feste Glaube an diese Berufsgruppe, der auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1991 fortbestand und daher ein Verständnis für den Künstler westlichen Typs, der auch Geschäftsmann, Manager oder Showmaster sein konnte, erschwerte. In Russland liebt und versteht man den geistigen Künstler und nicht den Konzeptualisten. In den 1990er Jahren sprach man noch von Warhols ‘Gags’ und nicht von Kunstwerken. Jemand, der näher an der russischen Vorstellung von einem Künstler war, war zweifelsfrei Joseph Beuys, der bereits einige Anhänger in der dissidenten Künstlerschaft der späten Sowjetunion verzeichnen konnte. Allerdings war die ästhetische Sprache von Beuys für viele Menschen damals noch völlig unverständlich. Natürlich handelt es sich bei dem Beschriebenen um ein ideologisches Künstlerbild, nicht die Realität eines Künstlers im heutigen Russland. Dieses Künstlerbild ist dennoch durch verschiedene Perioden der russischen Kultur gegangen und hat sich, kaum verändert, bis in unsere Zeit durchgesetzt. Ungeachtet der radikalen Umwälzungen der Oktoberrevolution und der damit einhergehenden neuen Aufgaben für den Künstler, ein Gestalter oder ein Ingenieur der Gesellschaft zu sein, hat sich seine Vormachtstellung gewahrt. In der jungen Sowjetunion war nämlich gerade der Ingenieur stets ein Held in den ersten Reihen des Proletariats. Die 1930er-Jahre mit ihren gigantischen Projekten der Metallstadt Magnitogorsk oder dem Bau des damals weltgrößten Wasserkraftwerks DneproHES, machten den Ingenieur zum wichtigsten Personal auf der Baustelle des Kommunismus. Der Künstler als Ingenieur der Gesellschaft begleitete diese Erfolge und motivierte das Volk weiterzumachen trotz Hunger und Erschöpfung. Der Künstler war ein Repräsentant reinster gesellschaftlicher Tugenden, seine Werke sollten das Volk bilden und erziehen. Diese Vorgaben kann man weit zurück datieren bis ins 10. Jahrhundert, denn die russische Vorstellung vom Künstler ist eng verbunden mit dem Status des Kunstwerks.

In der Geschichte der russischen Kunst nimmt die orthodoxe Ikone mit Abstand einen zentralen Platz ein. Von hier aus entwickelt sich alles Bildwerk der späteren Zeit und das Heiligenbild der orthodoxen Kirche, das im 10. Jh. aus Byzanz importiert wurde, bestimmt bis heute die Art wie Kunst in Russland wahrgenommen und erlebt wird. Vor der Ikone gab es Kunsthandwerk und Götzenbilder, hier und da Ornamente und Ausschmückungen. Erst der heilige Fürst Wladimir brachte die Orthodoxie und somit auch die Ikone nach Russland – er selbst ließ sich im Jahr 987 wegen der designierten Heirat mit der purpurgeborenen Anna von Byzanz taufen und nach der Vermählung zog Anna ihrerseits mit einem Gefolge von Priestern und Ikonenmalern in Kiew ein. Das orthodoxe Christentum und die Ikone sind nicht voneinander zu trennen, das vermochten nicht einmal die Bilderstürmer des 8. und 9. Jahrhunderts in Byzanz und so verbreitete sich mit dem Glauben auch die Ikone über die Kiewer Rus. Das westliche Andachtsbild unterscheidet sich vom Kultbild und damit auch von der Ikone dadurch, dass es das Innenleben eines einzelnen Gläubigen wiedergibt: eines Künstlers, Auftraggebers oder einer bestimmten Gemeinschaft. Die Wirklichkeit, die darin zum Ausdruck gebracht wird, ist diejenige, die das Sehen und Erleben des gestaltenden Künstlers spiegelt. So bleibt beim Andachtsbild, wie großartig und ergreifend es sein mag, immer noch der menschliche Bereich vordergründig spürbar. Die Ikone ist wesentlich anders, da ihr Maler das von ihm verwendete Material und die formale Eigenart des Dargestellten den Weg zur Einsicht und Verständnis weisen. Die ursprüngliche byzantinische Ikone ist streng und von einer festen Komposition, sie steht fest im Dienste des Dogmas und ist nur vom gläubigen Herzen her erfassbar. Die Urtypen der Ikonen, die Archeiropoeten, sollen Bilder gewesen sein, die nicht von menschlichen Händen erschaffen wurden, sondern direkt von Engeln auf die Erde gebracht. Gesammelt wurden solche Urbilder in den Regelbüchern, den in Russland sogenannten Podlinniki, damit die Ikonenmaler einem genauen Regelmaß folgen konnten. Ein Urtyp der Ikone, das Mandylion, wurde von Jesus selbst erschaffen, indem er sein Abbild auf dem Weg nach Golgatha im Schweißtuch der Veronika hinterließ. Und hier kommen wir zur der Theologie und Terminologie der Ikone, die für das Verständnis dieser Bildwerke unerlässlich bleibt.

Die ursprüngliche orthodoxe Ikone bildet nicht Jesus Christus ab, sie erzählt dem Betrachter nicht die Passionsgeschichte, sondern zeigt das Heilige selbst und verweist damit auf die ewige Wahrheit, die hinter dem Bild liegt: Gott selbst. Somit ist beispielsweise die berühmte Ikone des Mandylion bzw. Acheiropoetos aus der Novgoroder Schule um 1100, nicht ein Abbild des Schweißtuchs, wie wir es auf vielerlei künstlerische Weise im westlichen Andachtsbild variiert finden, nein, es ist das wahre Antlitz des Erlösers. Überall, wo russische Truppen in den Kampf zogen, wurde der Archeiropoetos voran getragen. Die Augen auf der Ikone, die den Betrachter fixieren, sind die Augen des Erlösers, nicht ihr Abbild. In der orthodoxen Kirche stellt man die Kerze auf und betet direkt vor dem Antlitz des Heiligen und hiermit ist die Ikone als wichtigstes Element des orthodoxen Glaubens manifestiert. Sie ist genauso wie die Heilige Schrift ein Ausdruck göttlicher Wahrheit. Viele Ikonen gelten als wundertätig und haben eine landesweite Berühmtheit über die Jahrhunderte hinweg erlangt. Die Gottesmutter von Vladimir (11.-12. Jh.) ist ein Beispiel für ein nationales Heiligtum. Dieses Halbbild Marias mit Kind im Arm, das sich an ihre Wange schmiegt, ist laut Legende eines von drei Porträts, welches der Evangelist Lukas selbst von der Gottesmutter gefertigt haben soll. Die Betrachtungsweise solcher Bildwerke erfordert vom Betrachter Ehrfurcht und Kontemplation, undenkbar sie nur für etwa 2-5 Sekunden mit dem Blick zu streifen, wie es der gemeine Ausstellungsbesucher heute, laut Auswertungen wissenschaftlicher Studien, gewohnt ist. Man kann die Erklärung zu diesen Bildwerken später im Katalog nachlesen und die Reproduktion anschauen, aber dies führt zum Verlust der Aura des Heiligen. Hier lebt Walter Benjamin weiter fort. Die Begegnung mit diesen Werken muss unmittelbar stattfinden, dazu wurden sie erschaffen. Die Ikone ist zur Verehrung geweiht und das fordert sie mit jedem wertvollem und bedachtem Pinselstrich von ihrem Betrachter ein. Diese Forderung kennt und spürt der orthodoxe Gläubige und schenkt ihr stets die notwendige Aufmerksamkeit. Die Verehrung der Ikonen konnte man früher auch an ihrer Oberfläche erkennen, denn der sogenannte Oklad, ein Schutzbeschlag aus Gold oder Silber, der bei besonderen Exemplaren mit Edelsteinen verziert war, wurde über die Ikone angebracht, um sie vor zu häufigem Berühren, Küssen und den Blicken von Ungläubigen zu schützen. Heute ist der Oklad zu einem modischen Accessoire der Ikone verkommen und auch durch die industrielle Herstellung hat die Tradition der Ikonenmalerei ihre ursprüngliche Form eingebüßt, wobei die Ikone selbst, egal wie sie hergestellt wird, ihre Bedeutung kaum verlieren kann.

Das Hauptargument der Ikonenverehrer zur Verteidigung der Bildwerke während des Ikonoklasmus war, dass Gottvater selbst mit der Erschaffung von Jesus Christus das Bilderverbot der frühen Zeit außer Kraft gesetzt hat. Diese Annahme lässt nicht nur das Bildwerk, sondern auch seinen Herstellungsprozess zum heiligen Ritual, einem Gottesdienst, werden. Der Maler wurde von Gott berufen, danach folgte noch eigens der Ruf der Kirche, das Werk des heiligen Pneumas zu erfüllen. Gewöhnlich waren Ikonenmaler Mönche, die unbekannt geblieben sind, das garantierte die Einhaltung des strengen Dogmas und der Forderungen der heiligen Liturgie. Nach der Prüfung musste der Maler sich in einem aufwendigen Reinigungsritual vorbereiten. Er betete, fastete und schwieg über Tage und Wochen und durfte erst beginnen, wenn er bereit für die heilige Arbeit war. Man kann sich vorstellen, dass das Fasten und Beten den Ikonenmaler in solche physischen und spirituellen Zustände versetzte, dass man wahrhaft glauben könnte, dass seine Hand von Gott selbst geführt wird. Das Regelwerk gab genau vor, wie die einzelnen Arbeitsschritte auszuführen waren, von der Vorbereitung der Holzunterlage, über jede einzelne Farbschicht, die in einer besonderen Abfolge aufgetragen wurde. Von besonderer Wichtigkeit waren die Abstraktion der Darstellung und ihre Entmaterialisierung. Alles, was an menschliches Bemühen erinnerte, sollte aufhören. Die reale mystische Verbindung zwischen Ikone und dem dargestellten Heiligen entstand jedoch erst nach ihrer Weihung. Vor der Übergabe an die Verehrung musste die Ikone dann noch eine besondere Heiligung durch Salbung mit heiligem Myron, einem feinen Olivenöl, empfangen.

Die Maler der russischen Ikonen negierten bald die strengen Vorgaben der byzantinischen Ikonenherstellung und entwickelten eine lockere und lebendige Bildsprache. Sie fingen an, mit dem Herzen zu malen, einen Individualismus innerhalb fester Rahmenbedingungen zu integrieren und damit sind erstmals auch die herausragenden Namen von Feofan Grek oder Andrej Rublëv in die Geschichte eingegangen. Sie erfanden eine neue Bildsprache für ihre Gottesergebenheit: Die berühmteste Ikone von Rublëv, die Dreifaltigkeit (1411), ist ein Meisterwerk aus feiner Komposition und tiefster Bedeutung. Die Ikonen sind das ultimative russische Kunstwerk, sie vereinen in sich Körper und Geist. Der Bildkörper ist gleichzeitig die ewige Wahrheit, die heilige Seele. Eine mystische Einheit, die seit Jahrhunderten in Russland gelebt wird im Unterschied zum westlichen Dualismus von Körper und Geist. Auch im sowjetischen Leben wurde eine Einheit gelebt, eine andere als die mystische Einheit der Ostkirche und dennoch hatte auch hier das Kunstwerk die Aufgabe, die Wahrheit zu verkünden, auch wenn es sich dabei nur um die manipulierte Scheinwahrheit der Partei handelte. Die Erlösung auf zu zeigen und den Betrachter die Erhabenheit des kommunistischen Ideals spüren zu lassen, war die Hauptaufgabe der Künstler.

Die Bildverehrung der Ostkirche wirkt sich bis heute auf die Art aus, wie der russische Bürger einem Kunstwerk gegenüber tritt und was er vom Kunstwerk erwartet. Der Betrachter zollt dem Kunstwerk höchsten Respekt und erwartet Erhellung und hohes Gedankengut als Antwort. Das Kunstwerk soll im Gegenzug dem Betrachter genauso Respekt entgegenbringen, indem es sich offenbart und ihn weder kritisiert, noch auslacht oder bloßstellt. An diesem Punkt beginnt das Verständnisproblem zwischen Betrachter und der zeitgenössischen Kunst westlicher Prägung in Russland. Ein Kunstwerk, das sich geheimnisvoll und unverständlich zeigt, das man erst versteht, nachdem man sich eine theoretische Erklärung dazu durchgelesen hat, verursacht negative Gefühle beim Betrachter. Er fühlt sich machtlos und nicht genug gebildet. Ein Kunstwerk, das den Betrachter kritisiert, greift ihn direkt an, auch das kann zu keiner glücklichen gegenseitigen Beziehung führen. Die Ikone greift nicht an und kritisiert nicht, vor der Ikone stehend, sieht man seine Fehler selbst ein, betet für Vergebung und Erlösung, wird aber niemals von den liebevollen Augen der Heiligen ausgelacht und nicht belächelt. In den Werken der westlichen Kunst duldet man diese andere Mentalität, schließlich ist der Kunstbegriff der Europäer und Amerikaner schon derartig gedehnt, gedreht und gesprengt worden. Was allerdings problematisch ist, wenn zeitgenössische russische Künstler versuchen, sich in die Rahmen dieses ‘fremden’ Kunstbegriffs zu begeben. Es wird nicht geduldet, wenn junge Künstler versuchen, sich gegen tradierte Werte und Tugenden aufzulehnen. Besonders deutlich wird das spürbar in den Prozessen, die seit den 1990er-Jahren in aller Öffentlichkeit wegen Kunstwerken, Kunstaktionen oder Ausstellungen geführt wurden. Beispiele hierfür sind die Ausstellungen Achtung: Religion! (2004) und Verbotene Kunst (2006): Die Organisatoren wurden verklagt, weil sie durch die ausgestellte Kunst Gefühle von Gläubigen verletzt haben sollen. Ausgestellt waren in beiden Projekten Werke von jungen und von etablierten Künstlern der Soz Art und des Moskauer Konzeptualismus, die dafür bekannt sind, ironisch mit bekannten Elementen der Macht umzugehen, um eine Kritik an ihnen zu üben. Darunter fielen auch religiöse Symbole oder Ikonendarstellungen. Was in der heutigen Kunst des Westens gang und gebe ist, löste in Moskau einen Skandal aus. Obwohl die Ankläger einem vorgefertigten Konzept folgten, kann man an der Konsequenz der Prozesse erkennen, dass es möglich ist, in Russland einen Künstler bzw. Kurator für das ‹Schüren religiösen Hasses› zur Verantwortung zu zwingen. Diese Prozesse, die in ihrer Rhetorik an die Moskauer Schauprozesse der Stalinzeit erinnerten, haben viele Künstleraktivisten Russlands dazu motiviert, sich lautstark gegen das marode Kunstsystem Russlands aufzulehnen. Die Verbindung der Kirche mit dem Staat wurde zum großen Thema und kulminierte schließlich im Pussy Riot-Prozess 2012, der deutlich machte, dass das Verständnis dafür, was zeitgenössische Kunst kann und darf, im Westen und Osten immer noch stark auseinander gehen. Besonders die allgemeine Stellung der zeitgenössischen Kunst in Russland wurde mit diesen Prozessen zum Ausdruck gebracht. Sie ist weit davon entfernt, etabliert zu sein, hat keine eigene einflussreiche Verteidigungsstruktur und keine große Anhängerschaft in einem Land, wo sich eine Zivilgesellschaft erst unter schwierigsten Umständen herausbilden muss.

Die Korruption in der orthodoxen Kirche und im russischen Staat sowie die ständigen Verletzungen der Menschenrechte sollen in diesem Beitrag nicht näher betrachtet werden. Stattdessen das Kunstwerk, das in Russland bis heute heilig bleibt und weder einen theoretischen noch politischen Rahmen benötigt, um als wichtig angesehen zu werden. Die in der Tretjakov-Galerie ausgestellten Ikonen werden von einem Touristen und einem Einheimischen stets unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Der große Unterschied liegt zwischen Auge und Herz. Es ist alles im Kunstwerk selbst enthalten, man muss nur aufmerksam hinschauen.