Kopflose Kugeln

Cécile Bally: THE KUGEL THEATER ESCAPED DESSAU 
Berlin, HZT Uferstudios, 18.April 2014
veröff. 17.05.2014 von Mira Hirtz

Warum denke ich über manches Gesehene länger nach als über anderes? Zum Beispiel dann, wenn ein Nachgeschmack bleibt, den ich erst noch einmal nachvollziehen muss. Was waren also die Erwartungen an das Gesehene, was sind die Kriterien seiner Bewertung?  

Die Kunstkritikerin und Theoretikerin Claire Bishop fragt in ihrem Buch Artificial Hells nach den Kriterien, die partizipative sozialkritische Kunstwerke erfordern. Ihr ist es dabei wichtig, nicht den Prozess in den Vordergrund zu stellen – also die letztliche Aussage des Werkes nicht nur in dem Zeitabschnitt, in dem es sich vollzieht, zu suchen. Und auch nicht nur in seiner Eigenschaft, sich über einen Zeitraum hin zu entwickeln und zu Interaktion zu führen. Denn: “What matters are the ideas, experiences and possibilities that result from these interactions. […] find ways of accounting for participatory art that focus on the meaning of what it produces, rather than attending solely to process.”1 Bishop fragt also: Welche Bedeutung wird produziert?  

Mit dem Wort Bauhaus verbindet man im Kunstfeld Einiges – nicht nur das Design mit Grundformen und -farben und das in Architektur kulminierende Gesamtkunstwerk, auch Bühne, Raum und Bewegung, vor allem betrieben durch den Bauhauslehrer Oskar Schlemmer. Bauhaustänze nannte er seine Studien, die er in den 20er Jahren mit Studierenden und TänzerInnen durchführte. Das HZT Berlin, die TU Berlin und das Anhaltische Theater Dessau haben sich unter der Leitung von Ingo Reulecke mit den Bauhaustänzen auseinandergesetzt. Man kann also sagen, drei heutige Kunstinstitutionen widmen sich einer weiteren vergangenen. Es geht hier um Kunst, da kann man sich ganz sicher sein. Man verbindet das Bauhaus aber nicht nur mit bestimmten künstlerischen Inhalten, sondern auch mit einer neuen Art der Kunsterziehung und einer geschlossenen Künstlergemeinschaft. Symbolischer Weise passiert man, wenn man auf das HZT Gelände gelangen möchte, eine übermannshohe Steinmauer. In den ehemaligen Fabrikgebäuden werden über den Abend verteilt mehrere Stücke, Installationen und Videos gezeigt.  

Was sind die Schritte, in denen sich das Publikum in dieses Event einfindet? Trotz aller Vorsicht, die man laut Claire Bishop dem Begriff des Prozesses gegenüber aufbringen sollte, betrachte ich eben diesen prozesshaften Ablauf, in dem Erfahrungen gemacht werden und somit eine Art Gemeinschaft hervorgebracht wird. Und der betrifft den ganzen Rahmen des Events: Auf welchen Ebenen werden Informationen vermittelt und somit Wahrnehmungsweisen erzeugt, mit denen man die Performances anschaut?    

Die Leute bewegen sich in Gruppen langsam wandernder Zuschauer. Sie kaufen sich Drinks und Tickets, reden, warten und lesen die Inhaltsangaben der Performances. Es geht um Referenzen auf und Aktualisierungen von Bauhauskonzepten. Und natürlich begegnen uns an diesem Abend häufig rote, gelbe und blaue Pyramiden, Stäbe und Kugeln.  

So auch beim Kugeltheater der jungen Berliner Choreografin Cécile Bally und um das soll es hier gehen. Über zwei Stunden lang stehen zwei Performerinnen auf einer kleinen runden Plattform aus Styropor, die sich dreht und langsam zum stehen kommt. Diese Miniaturbühne wird dadurch in Bewegung gesetzt, dass ein/e Umstehende/r den roten Griff fasst und der Plattform einen Schwung versetzt. Es erinnert mich an ein Karussell auf einem Kinderspielplatz, dass von SpielkameradInnen angedreht werden muss. Die Performerinnen nehmen durch bedachte, langsame Bewegungen Posen ein: stehend und liegend, sich die Hände gebend, zum Publikum oder abgewandt. Ein Grund für diese vorsichtige Qualität sind die großen weißen Styroporkugeln, die sie jeweils auf dem Kopf tragen. Man sieht: Die Kugeln sind leicht, sie haben auch ein paar Löcher, sodass Luft hindurchdringen kann, aber sie schränken die Sicht der Performerinnen ein und ändern auch ihre übrige sinnliche Wahrnehmung der Umgebung.  

Das Kugeltheater ist im Vorraum eines Studios platziert, der sich langsam mit ZuschauerInnen füllt, die auf die nächste Performance warten. Die Choreografin ist da und dreht selbst, um das Publikum aufzufordern, dasselbe zu tun – es ist ein installativer Aufbau, der ein aktives Publikum braucht, um zu vollständig zu sein. Und der, anders als beim Spielkarussell, Uneingeweihte erst zu KameradInnen werden lässt. Nach und nach drehen alle mal ein bisschen. Erst vorsichtig, dann schneller, stoppend. Dann, wenn sich die Performerinnen gerade bewegen wollen. Nun in die andere Richtung. Und lesen dann den Zettel mit der Inhaltsangabe, um zu wissen, woran sie eigentlich teilgenommen haben: Es geht um Schlemmers Umgang mit Theater und Körpern, um Frauen, um Formate. Und um den Menschen – der wird “zum Ausstellungsobjekt”. Huch, dazu hat man also gerade beigetragen?  Ja klar, schon durchs Zuschauen. Sobald man den Raum betritt, gezwungener Maßen. Das ist das Los eines Publikums, dass partizipatorischer Kunst ausgesetzt wird. Diese Idee ist schon oft durchgekaut worden. Und es ist faszinierend, wie sie immer noch angewandt werden kann – und plötzlich wird klar, es geht hier auch darum, wie gut die Regeln der Performancekunst funktionieren: Eine kleine Bühne, zwei Masken, die die Gesichter verdecken und eine Aufforderung an die ZuschauerInnen, mitzumachen – und schon kann man beobachten, wie viel Subjekt dieser Körpern nach einer Weile noch übrig bleibt.  

Die Kinder haben den meisten Mut und am wenigsten Scham. Mit ihren Stöcken hauen sie auf die Kugeln und sind erschrocken, wenn sich die Körper bewegen. Denn, das sind ja echte Menschen! Aber sie haben auch Vorbilder: Zwei ältere Damen klopfen am Styropor an und lachen darüber, dass niemand antwortet. Sie versuchen, durch die Löcher zu schauen. Andere drehen so schnell sie können. Wieder andere drehen danach besorgt ein bisschen in die andere Richtung.  

Jeder will mal. Und je voller der Raum wird, desto mehr lädt er sich auf mit einer hitzigen Bereitschaft, desto mehr wird er zu einer geschlossenen Gesellschaft, die sich schonungslos der interaktiven Kunst und all ihren Fragen widmet: Was heißt es, ein Angebot zu machen und was, eines zu erhalten? Welche Erlaubnis steht dadurch im Raum? Welche Verhaltensweisen werden dadurch geändert?

Claire Bishop kritisiert den Trend, Performances, die über den Aspekt der Sozialität, der jeder Performance immanent ist, hinausgehend Anspruch auf Partizipation erheben, bloß nach ihrer sozialen Dimension hin zu analysieren und bewerten. Beim Kugeltheater spielt die ästhetische Vermittlung von Information eine entscheidende Rolle: Die Begleitzettel vermitteln Referenzen auf das Bauhaus-Thema, die Wege durch das Gelände erzeugen eine schlendernde Aufmerksamkeit, der rote Griff ist eine altbekanntes aber dennoch gern angenommene Aufforderung zum Mitmachen. Was übrig bleibt, ist aber nicht der Prozess im Sinne von “alle werden ein Teil des Werks”: der ist gar nicht so interessant und sowieso ziemlich verbraucht. Hier ist er bloß ein Mittel. Der Rahmen vermittelt dem Publikum nicht, dass es hier um sozialkritische Kunst geht und ob die Choreografin solch eine Lesart intendiert hat, bleibt unklar. Unmerklich aber, durch die Einladung zu einem Spiel, zieht einen das Kugeltheater hinein in diese installative Situation, die zeigt: So klein und verspielt der Schubs auch sein mag, immer sind soziale Verhaltensweisen am Werk. Es geht nicht darum, eine spielende Gemeinschaft zu erzeugen – die Bauhausformen erhalten eine beinahe brutale Färbung in ihrer Funktion, die Subjekte zu verdecken. Und die Beziehung zu diesen Subjekten schwankt zwischen Achtsamkeit füreinander und der eigenen Lust, mit all den facettenreichen Zwischenstufen. Was mir vom Kugeltheater als Nachgeschmack bleibt ist das Ausstellen von sozialem Umgang in seinen profunden Mechanismen.

  • 1. Claire Bishop: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, Verso, London 2012, S.9