out of the world

Philippe Parreno: ANYWHERE, ANYWHERE OUT OF THE WORLD
Paris, Palais de Tokyo, 23. Oktober 2013 – 12. Januar 2014 
von Johanna Ziebritzki

Das Gedicht The Bridge of Sighs von Thomas Hood, einem englischen Dichter des frühen neunzehnten Jahrhunderts, erzählt von einer jungen, heimatlosen Frau, die sich von einer Brücke in einen Fluss fallen lässt, um ihr Leben zu beenden.

Dieses Ereignis wird nicht aus ihrer Sicht erzählt, sondern großteils aus der eines allwissenden Erzählers, der sich mit dem Gedicht an den möglichen männlichen Finder der Leiche wendet. Diesem werden Anweisungen gegeben, mit dem Körper der Toten gut und achtsam umzugehen. Warum sie sterben wollte, deutet Hood in den folgenden Zeilen an:            

Mad from life‘s history,            
Glad to death‘s mystery,            
Swift to be hurl‘d – Anywhere,            
anywhere out of the world!
     

Der Schriftsteller und Dichter Charles Baudelaire, ein französischer Zeitgenosse Hoods, hat das Gedicht übersetzt und folgende Zeile als Titel eines eigenen Gedichtes verwendet: Anywhere out of the world. In Baudelaires Gedicht begeht niemand direkt Selbstmord. Es handelt von der Sehnsucht nach dem einen richtigen Ort auf der Welt. Von der Möglichkeit an einen Ort zu gelangen, an dem die Seele von der Krankheit namens Leben heilen kann. Der Protagonist führt ein Zwiegespräch mit seiner Seele, in dem er ihr verschiedene Orte vorschlägt, an denen sie sich wohl fühlen könnte, da sie dort wo sie ist, nie zufrieden ist. Die Seele aber sieht allein in Weltflucht die Möglichkeit, zur Ruhe zu finden, auch wenn das ihren Tod bedeutet.                

Enfin, mon âme fait explosion et sagement elle me crie : “N’importe où ! n’importe où ! Pourvu que ce soit hors de ce monde !”                

 in engl. Übersetzung: At last my soul explodes, and wisely cries out to me: ‘No matter where! No matter where! As long as it’s out of the world!’    
 

Philippe Parreno, ein 1964 in Algerien geborener Künstler der in Frankreich lebt und arbeitet, hat die hoodsche-baudelairsche Zeile zu dem Titel seiner Ausstellung im Palais de Tokyo 2013/2014 gemacht: ANYWHERE, ANYWHERE OUT OF THE WORLD. Was erwartet uns, wenn wir den Titel hören und seine Herkunft kennen? Die Frage stellt sich unmittelbar, da beide Gedichte im Begleitzettel der Ausstellung mit dem Hinweis genannt werden, dass “the ghostly play of appearances and dissappearances” an diese Gedichte erinnere. Aber geht es in den Gedichten tatsächlich um Erscheinen und Verschwinden, Auftauchen und Entziehen? Oder geht es nicht vielmehr darum, dass das Leben auf der Erde nicht ertragbar ist? Baudelaires Anywhere out of the world beginnt:  

Cette vie est un hôpital où chaque malade est possédé du désir de changer de lit. Celui-ci voudrait souffrir en face du poêle, et celui-là croit qu’il guérirait à côté de la fenêtre. Il me semble que je serais toujours bien là où je ne suis pas, et cette question de déménagement en est une que je discute sans cesse avec mon âme.    

in engl. Übersetzung: This life is a hospital where every patient is possessed with the desire to change beds; one man would like to suffer in front of the stove, and another believes that he would recover his health beside the window. It always seems to me that I should feel well in the place where I am not, and this question of removal is one which I discuss incessantly with my soul.    

Bei Hood klingt die Unmöglichkeit, in dieser Welt ein stabiles Zuhause mit verlässlicher Liebe zu finden, folgendermaßen:    

Alas! for the rarity
Of Christian charity 
Under the sun!  
O, it was pitiful! 
Near a whole city full, 
Home she had none.    

Sisterly, brotherly,
Fatherly, motherly
Feelings had changed: 
Love, by harsh evidence,
Thrown from its eminence;
Even God’s providence 
Seeming estranged.    

Where the lamps quiver
So far in the river,
With many a light
From window and casement,
From garret to basement,
She stood, with amazement,
Houseless by night.
   

Die einzige Möglichkeit zur Ruhe zu finden, die den ProtagonistInnen bleibt, liegt darin, das Leben zu beenden. Ist die Aussage, die Hood und Baudelaire machen, nicht eine viel schwerwiegendere als das „play of appearance and disappearance“, das Parreno im Begleitzettel zur Ausstellung zugeschrieben wird?    

In diesem Text geht es um Parrenos Verweis- und Zitier-Methoden und um die Frage, ob sein Verweisen auf und Zitieren von anderen KünstlerInnen primär dazu dient, das eigene Werk in einen größeren historischen ider personal-politischen Kontext zu setzen, oder ob die Verweise über die eigene Belesenheit und das Rekontextualisieren hinausgehend etwas schaffen.      

Betritt man den Ausstellungsraum des Palais de Tokyo, ist hat man womöglich bereits einige Komponenten der Ausstellung Parrenos übersehen. Parreno hat sich des ganzen Gebäudes angenommen: von den Fenstern, die mit Milchfolie abgeklebt sind (Fenêtres floues, 2013), über die 56 Lampen, die in ihrer Anzahl mit den Tanzfiguren übereinstimmen, die es in Igor Stravinskys Ballett Petrushka gibt und obendrein auch auf ebendiese Tanzfiguren abgestimmt flackern (56 Flickering lights, 2013), bis zur Kassentheke, die die KassiererInnen und die BesucherInnen durch eine leuchtende Wand hinter der Kasse zu Silhouetten werden lassen (La Banque d‘accueil, 2013).

 

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Diese Werke fallen, ohne dass man mit Parrenos Arbeitsweise vertraut ist, nicht unbedingt als Kunstwerke von ihm auf. Aber sie sorgen mit Sicherheit für einen kurzen Irritationsmoment, in dem man sich fragt, wer wohl diese Kassenarchitektur entworfen hat, die es schwer macht, die Gesichter der Verkaufenden klar zu sehen. Und wieso sind alle Lampen im Gebäude kaputt, so dass sie flackern? Diese Irritation evoziert das Gefühl das entscheidende Etwas nicht zu verstehen. Zeitweise scheint es so, als ob man durch eine Welt gehen würde, die jemand gebaut hat, die dieser jemand versteht und in der man zu Besuch ist, die allerdings nicht die eigene Welt ist, sondern “out of my world”. Die Faszination wird zu Neugier, zu dem Drang die Ausstellung zu erkunden und zu durchschauen. Der erste Schritt ist demnach, die Titelschilder an den Wänden lesen zu wollen – vielleicht erschließt sich daraus etwas? Natürlich ist dem nicht so. Nichts entspricht in seiner Funktion einfach nur den erlernten und mitgebrachten Erwartungen. Die Titelschilder sind kleine Bildschirme, auf denen alle Titel der Ausstellung und verschiedene Zitate nacheinander gezeigt werden (Flickering labels, 2013). Wieder eine Irritation, die man erfährt, wenn man eigentlich Erklärungen sucht. Diese Irritationen und die überall auftauchenden Querverweise legen eine Suche nach Zusammenhängen und nach Erklärungen, nach Parrenos Ideen nahe. Zum Beispiel flackern nicht nur die Lampen passend zu Petrushka, sondern in der Ausstellung verteilt sind außerdem vier Konzertflügel, die alle  wie von Geisterhand, sich einander ablösend ebenjene Melodie des Petrushka spielen, von Mikhail Rudy eingespielt. Das Ballett erzählt die Geschichte eines Kasperltheaters, dessen Figuren durch die Magie des Puppenspielers zu Leben erwachen. Petrushka, verliebt sich unglücklich, und muss deswegen sterben. Der Puppenspieler versichert den erschrockenen ZuschauerInnen, dasss die Puppen zwar durch seine Magie lebendig wirkten, dass es letztlich jedoch nur Puppen seien. Als er allerdings die “tote” Puppe des Petrushka beiseite tragen will, lacht Petrushkas Geist ihn aus woraufhin der Puppenspieler in Angst flieht. Das Motiv des Geistes zieht sich durch die ganze Ausstellung und damit auch das der Anwesenheit und der Abwesenheit, das der verschiedenen Welten, in denen man an- und abwesend sein kann.          

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Auf die Flügel rieselt zudem “depending on the events in an exhibition”, wie dem Begeltizettel zu entnehmen ist, schwarzer Schnee. Es handelt sich um eine Arbeit von dem mit Parreno befreundeten Künstler Liam Gillick (Factories in the snow, 2007). Parreno stellte Gillicks Arbeit in Kollaboration mit Hans-Ulrich-Obrist 2007 in Manchester aus. Die vielen Namen der Personen mit denen Parreno kollaboriert und die verschiedenen Rollen, die er selbst einnimmt, fallen auf. (Nur um einige Beispiele zu nennen, die alle im Begleitzettel genannt werden: Parreno bezieht sich u.a. auf.: John Cage, Merce Cunningham, Marilyn Monroe, Igor Stravinsky, Zinedine Zidane; arbeitet zusammen mit: Liam Gillick, Douglas Gordon, Domonique Gonzales-Foerster, Tino Sehgal, Pierre Huyghe, Bas Smets. Er wird als Künstler, Kurator, Choreograph, Regisseur, und mir kommt noch die Assoziation des Jahrmarktdirektors in den Sinn, bezeichnet werden.) Geht man so lesend und schauend durch die Ausstellung, kommt man aus dem Staunen und der Neugier nicht mehr raus. Der Mann ist genial! Er scheint alles gesehen, gelesen und gehört zu haben! Er ist mit allen wichtigen KünstlerInnen und KuratorInnen unserer Zeit befreundet! Die Ausstellung ist perfekt durchdacht, es gibt keinen Lichtschalter und keine Treppenstufe, die Parreno nicht beachtet hat. Man geht durch die Ausstellung, durch die Klaviere und die flackernden Lampen von Petruska geleitet. Es gibt einen geheimen Raum, der hinter einem Bücherregal ist, das man öffnet indem man es dreht (Bücherregal von Domonique Gonzales-Foerster: La Bibliotheque clandestine, 2013 und der Raum von Parreno: A Reenactment: Margarete Roeder-Gallery, 2002-2013, in dem Parreno die Ausstellung von John Cage und Merce Cunningham 2002 nachstellen lässt, bei der jeden Tag ein Bild von Cage gegen eines von Cunningham ausgetauscht wurde). Es gibt einen dunklen Raum, mit Leuchtbildern an der Wand, die langsam verblassend gescheiterte Werke von Parreno abbilden (Fade to black, 2013).    

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Es gibt eine runde Tanzfläche (How Can We Know The Dancer From The Dance?, 2012), die den Klang eines Tanzes der Cunningham Company wiedergibt, während die TänzerInnen unsichtbar bleiben. Es schient ein Spiel zu sein, bei dem wir BesucherInnen die SpielerInnen sind und den Regeln des Spielemachers Parreno blind folgen müssen, weil wir sie nicht kennen. Parreno hat dabei ein Mehr an Wissen, dass er uns verschlüsselt zeigt. Was aber der Weisheit letzter Schluss ist, das sagt er uns nicht. Zugleich bleibt das Bild des Jahrmarktdirektors präsent. Vielleicht weil man das Denken aufgibt, wenn man im dem Namens- und Verweisgewitter stecken bleibt, um einfach Spaß daran zu haben, entdeckend durch die Ausstellung zu gehen. Vielleicht auch deshalb, weil Parrenos Witz und die Inszenierung der Werke Freude bereiten, weil sie ein ästhetisches Hochgefühl auslösen. Aber was hat das Spiel, was hat der Jahrmarkt noch mit der Verzweiflung des Menschen zu tun, der es auf dieser Welt nicht aushält? Gibt es eine Verbindung zwischen dem Spiel mit Ab-und Anwesenheit bei u.a. Cunninghams Tanz und Petrushka und dem Ernst und der Schwere der Protagonisten der zitierten Gedichte?             

Parrenos Verweise bleiben immer im Kunstkontext. Er zitiert KünstlerInnen aus allen Sparten und ebenso „has [he] collaborated with numerous other artist, curators, philosophers, musicians, photographers“. Keines der Werke rührt an Themen wie das der existentiellen Verzweiflung, wie das des Suizides als Vollendung des Eskapismus. Das eng gewebte Teppich an Ideen, der sich aus Parrenos unendlichem Referenzieren und Kollaborieren spinnt, zeigt die eigene Verstricktheit in die Kunstwelt. Dabei verdeckt er aufgrund seiner Dichte die Sicht auf das, was eventuell unter dem Teppich liegen könnte. Er verdeckt die Sicht auf den Grund.  

Staunen, sich freuen und Spaß haben kann man in der Ausstellung für den Moment des Besuches, wenn man sich auf das Spiel einlässt und nicht krampfhaft versucht, jedem Zitat und Verweis einen Sinn abzugewinnen bzw. einfach Parrenos Position gegenüber diesen KünstlerInnen zu erkennen. Man kann der Ausstellung vieles darüber entnehmen, wie unsere heutige Kunstwelt funktioniert und welchen Stellenwert Freundschaften haben können. Es ist kein Zufall, dass Parreno der erste Künstler ist, und wahrscheinlich (nach Aussage eines Exhibition Guides am 16.10.2013 (?)) auch einzige bleiben wird, der den ganzen Palais des Tokyo bespielen darf. Überhaupt ist der Ort des Palais de Tokyo für Parreno ein Heimspiel, da dieser von Nicolas Bourriaud, dem Autor des Buches: Esthétique relationnelle von 1998, mitbegründet und von 1999 bis 2006 mitgeleitet wurde. In der Esthétique relationnelle nennt Bourriaud eine Kerngruppe von 10 KünstlerInnen, die seiner Auffassung nach zeitgemäße Kunst machen. Zeitgemäße Kunst machen, stark verkürzt zusammengefasst, diejenigen, die die Bedingungen und Auswirkungen des Kapitalismus auf ihr Leben sowie das künstlerische Schaffen und den Kunstmarkt reflektieren indem sie Kunst als Gemeinschaftserfahrung verstehen, die außerhalb des Kapitalismus steht, da sie im objektorientierten Kunstmarkt nicht verkaufbar ist. Philippe Parreno und auch Pierre Huyghe gehören nach Bourriaud der Gruppe der Relational Artists an. Diese Informationen sind nicht auf dem Begleitzettel. Nun ist es normal, dass KuratorInnen, SammlerInnen, GaleristInnen, TheoretikerInnen und KünstlerInnen befreundet sind, daran ist nichts auszusetzten. Wenn die Kunst allerdings, zugespitzt gesagt dazu dient, sich Freundschaftsdienste zu erweisen, wird sie instrumentalisiert und das ist zu kritisieren. Denn dann dreht sich der Kunstkosmos nur noch um die eigene Achse.

In Parrenos Geister-Palais spuken viele Geister, getrennt von der äußeren Welt durch milchige Scheiben und eine eigene Logik. Seit langem hatte ich in keiner Ausstellung mehr so viel Freude am Entdecken. Parreno nimmt mich an der Hand und zeigt mir seine bunte, sich bewegende Welt voller großer und kleiner Geheimnisse. Löse ich mich von Parrenos Hand und versuche den Geheimnissen auf den Grund zu gehen, lassen sie sich teilweise lüften. Hebt man des Teppich an, so sieht man ein bisschen Staub und den uninteressanten Boden. Von dem Ausstellungsbesuch bleibt der Eindruck, dass die Kunstwelt ein sich selbst genügendes und sich selbst erhaltendes System ist.