Pierre Huyghe im Museum Ludwig

Pierre Huyghe
Köln, Museum Ludwig, 11.April - 13. Juli
veröff. 17.05.2014 von Johanna Ziebritzki

Das Spiel, die SpielerInnen und der Künstler Pierre Huyghe

I.I. Kinder spielen Vater, Mutter, Kind. Manche spielen auch Schule oder Krankenhaus, Obdachlose oder Bäckerei. Dabei geht es um das Imitieren, Ausprobieren und Erlernen der Verhaltensweisen der Erwachsenen. Es werden zwischenmenschliche Beziehungen und soziales Miteinander gespielt. Wobei spielen ab einem gewissen Grad der Versunkenheit der Kinder in das Spiel nicht mehr der richtige Ausdruck zu sein scheint. Kinder leben für die gegebene Zeit in der erbauten Realität mit den von ihnen gesetzten Regeln.

Das lässt sich an der benutzten Sprache festmachen. Verwenden sie, solange sie das Spiel konstruieren, oftmals den Konjunktiv (“Aber du wärst halt keine fiese Mama.” ”Ich wär noch zu klein, um in die Schule zu gehen.”), sprechen sie während des aktiven Spielens im Indikativ. Die Kultur basiert, so kann man argumentieren, auch in der Erwachsenenwelt auf festgesetzten Regeln, die unter anderem in Form von Traditionen und Riten auftauchen. Sie ist das Spiel der Erwachsenen, das keinen unmittelbaren Zweck erfüllt, denn auch wenn man biologisch argumentiert und das Spiel als Vorbereitung auf das Leben versteht, erklärt sich nicht, wieso Erwachsene noch spielen. “Play is older than culture, for culture, however inadequately defined, always presupposes human society, and animals have not waited for man to teach them their playing.”1

I.II. Für Pierre Huyghe ist die Trennung zwischen Spiel und Leben, Zufall und Konstruktion in sich zwei entgegengesetzte Sphären eine zu eliminierende. Oftmals konstruiert Huyghe Events, d.h. er legt die Grundregeln eines Ereignisses fest. Wie dieses Ereignis dann tatsächlich stattfindet, welche Form es annimmt, kontrolliert nicht mehr Huyghe, sondern wird von den Partizipierenden im Verlauf des Ereignisses geformt. Partizipation hat für Huyghe einen sehr spielerischen Charakter, wobei das Spiel bei ihm eben nicht im Gegensatz zur Ernsthaftigkeit des Lebens steht. Ein Spiel kennzeichnet, dass es Regeln gibt und dass es Menschen gibt, die spielen.

Huyghe selbst arbeitet als Künstler oft kollaborativ mit Phillipe Parreno, Rirkrit Tiravanija, Liam Gillick, Dominique Gonzalez-Foerster und vielen weiteren. Gemeinsam ist diesen KünstlerInnen die Idee, dass das Kunstwerk als Erfahrung eines – wie auch immer gearteten – sozialen Körpers existiert. Das Werk dient nicht als Katalysator für eine Refelxion über Gemeinschaft. Es setzt diese mit den Mitteln des Distanzverlustes direkt in das Werk. “As I start a project, I always need to create a world.”2 sagt Huyghe und speist damit das altbekannte Bild des Kreativen, des Weltenschöpfers. Doch wie schafft Huyghe diese Welt? Auf welchen Regeln basiert sie und was geschieht in ihr?

I.III. Was nun ist ein Beispiel für so eine huyghsche Welt? In den Events konstruiert sich auf den gegebenen situationsspezifischen Grundparametern basierend die Erfahrung einer Gemeinschaft (oder der Abwesenheit ebendieser). Streamside Knoll ist eine 2003 neugebaute, geschichts- und traditionslose Siedlung am Hudson River. Huyghe plante und ermöglichte ein großes Fest für die Neuzugezogenen, um ihnen einen Feiertag zu geben, der womöglich eine eigene Identität stiftet und Gemeinsamkeit schafft. Dazu ließ er eine Bühne aufbauen und lud eine Band ein. Er installierte einen riesigen hellen Leuchtball, der wie ein zweiter Mond in der Dunkelheit über dem Ort hing, organisierte eine Parade und stellte Essen zur Verfügung. Was dann jedoch tatsächlich im Detail geschah, wer sich wie benahm, wer lachte und welche Freundschaften geschlossen wurden, war von Huyghe nicht geplant, war nicht choreografiert. So verwebt sich im Film Streamside Day Follies (2003) eine konstruierte Situation mit nicht-konstruierten Erfahrungen.

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Huyghe geht in dem jüngeren Event The Host and the Cloud (2010) den nächsten Schritt. Nur noch der Ort, ein verlassenes Museum, ist der Alltagswelt entnommen. Die Menschen und die möglichen Situationen werden in diesen Ort eingeführt und so wird ein – vorerst als künstlich zu bezeichnender – Organismus konstruiert. In dem geschlossenen Musée des Arts et Traditions Populaires in Paris ließ Huyghe ein Jahr lang 15 SchauspielerInnen und einige Professionelle, unter anderem einen Hypnotiseur, ein französisches Topmodel und einen Zauberer agieren. Dabei waren ihre jeweiligen Rollen und Handlungen nur zum Teil gescripted, so dass die Rollen immer wieder Leerstellen hatten, die sie innerhalb der gegebenen Situation mit Handlung füllen konnten. Aus den “künstlichen” Vorgaben entwickelten sich “echte” Situationen. Menschen können entweder  ProtagonistIn einer Geschichte sein oder ein “lost character”4, der zwar in der Erzählung mitläuft, sie aber nicht mitgestaltet.

Nachdem Huyghe die Grundparameter gesetzt hat, hat der soziale Organismus ein auch für ihn nicht absehbares Eigenleben entwickelt. Für Huyghe ist entscheidend: “Everything that happened was real”5. Huyghe ist nicht der allwissende Erzähler, sondern alle Beteiligten weben und erleben die Erfahrung der Situation. Aber da Menschen teilnehmen und auch über die Dauer des Events hinaus von dem dort Erfahrenen geprägt sein werden, wird es für alle Beteiligten auf diese oder jene Weise ihr alltägliches Leben beeinflussen. Es gibt für Huyghe nur das echte Leben, wenn man sich dafür entscheidet, aktiv daran teil zu haben.

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I.IV. ”There’s a stronger output of images and stories as well as a stronger need to understand what one is being supplied with. But nobody wants to be just a continually fed terminal. One would like to be able to inhabit one’s own culture, to participate in it.”8 Die starke Kulturproduktion ermöglicht es uns, immer hinter den neusten Filmen, Büchern, Websites, Spielen, Ausstellungen und Alben hinterher zu konsumieren. Um dem Diktat der Produzierenden unterworfen zu sein, muss man gar nichts machen. Deswegen gerät man so schnell unters Rad der durch Konsum verursachten Passivität. An diesem Punkt, an dem wir vor lauter Angebot nicht mehr aktive MitgestalterInnen unserer Kultur sind, setzt Huyghes Interesse an. Wir sind “lost characters”, wenn wir die Welt, in der wir leben, nicht als eine von uns formbare und veränderbare wahrnehmen. Huyghe hat nicht den Drang, den Menschen zu sagen, wie sie richtig leben sollen oder wie der böse Kunstmarkt mal wieder wahre Kunst unterdrückt. Er spielt mit der Welt, die er vorfindet. Durch sein Spiel, in das er viele einbezieht, werden er und die MitspielerInnen zu GestalterInnen der Kultur und Gesellschaft, aus der heraus sie das Spiel begonnen haben. Huyghe arbeitet sich nicht an kunstsystemsimmanenten Diskursen ab. Er produziert keine in sich abgeschlossenen Werke, um sie im Museum zu zeigen. Er selber weiß nicht, wie seine Werke enden, als Kunst oder als Leben. Und das spielt auch gar keine Rolle, wenn man sich in seiner Welt bewegt.

Die Kunstinstitutionen und der Spieler Pierre Huyghe

II.I. Und doch ist Pierre Huyghe Künstler und wird im Kunstkontext rezipiert. Wie geht er mit diesem Kontext um? Wie bewegt er sich in der Welt der Kunstinstitutionen? Pierre Huyghe hat sich den großen Institutionen verweigert und viel im öffentlichen Raum gearbeitet. In jüngster Zeit jedoch nimmt er sich des insitutionellen Ausstellens an. 2012 nahm er an der dOCUMENTA 13 teil. Sein Beitrag besteht aus einem Garten, den er gestaltete, bepflanzte (nicht pompös-floral, sondern mit Gewächsen, die verschiedene psychogene Wirkungen haben) und besiedelte (Untilled 2012). Er schuf eine Landschaft, die wuchs und wucherte und das sicherlich auch heute noch tut. Die Pflanzen und ihre Samen interessiert nicht, dass die Dokumenta auf 100 Tage begrenzt ist. Im Herbst 2013 hatte Huyghe dann eine große Einzelausstellung im Centre Pompidou in Paris. Die Werkzusammenschau fand im klassischen Museumsraum statt, im White Cube einer der größten und bekanntesten Museen. Im Frühjahr 2014 ist diese Ausstellung nun nach Köln in das Museum Ludwig gekommen und wird danach weiterreisen in das Los Angeles County Museum of Art. Nachdem Huyghe nun in den musealen Raum zurückgekehrt ist, stellt sich die Frage, wie er mit diesem umgeht.

II.II. Huyghe steht mit seiner Aversion gegen Institutionen in einer langen Tradition institutionskritischer KünstlerInnen. Heute schaffende KünstlerInnen sind sich der Problematik der Produktions- und Präsentationsbedingungen von Kunst bewusst. Huyghe versteht sein Arbeiten als “re-negotiation” der Befreiung des Raumes “from its given scenario and its conventional use”.9 Daniel Buren, auf den sich Huyghe, wenn er von re-negotiation spricht, bezieht, ist ein amerikanischer Künstler der institutionskritischen Kunst der 70er. Mit dem Text Where are the artists (1972) stellt Buren den Überkurator infrage. 1972 kuratierte der erste “Überkurator” Harald Szeemann die Dokumenta 2,  gegen den und gleichgesinnte KunsttheoretikerInnen sich Buren mit seinem Text wendete. Dabei ging es um die Frage, inwieweit in Ausstellungen überhaupt noch Kunst gezeigt werde und ob nicht vielmehr Kunst zur Illustration des kuratorischen Konzepts diene, wie das bei Szeemann der Fall sei.

Aus der Angst vor Entmündigung resultiert die Bewahrung einer kritischen Distanz gegenüber den großen Institutionen. Pierre Huyghe teilt diese mit Daniel Buren. Die Abneigung fußt in der Angst davor, dass nicht die gezeigte Kunst eigentlicher Inhalt von Gruppenausstellungen ist, sondern dass sie zur Veranschaulichung der Idee einer anderen Person instrumentalisiert wird. Die institutionskritischen Fragen sind bei Huyghe, anders als das bei dem eine Generation älteren Buren der Fall ist, nicht das Thema seiner Arbeiten. Huyghe entzog sich viele Jahre selbstverständlich dem Ausstellen in Kunstinstitutionen und zeigte stattdessen im öffentlichen Raum und in kleinen Offspaces seine Werke, ohne dass die Frage, ob das was er produziere Kunst sei, Aufsehen erregte.Buren beendete seine Kritik mit der Forderung danach, dass KünstlerInnen die nächste Dokumenta kuratieren sollen. Das ist bis heute nicht geschehen.

II.III. Huyghe gibt die Konzeption der Zusammenschau nicht an eine/n KuratorIn ab. Und schafft, so hat es den Anschein, dadurch ein weiteres Werk, das in sich alle Arbeiten vereint und diese zugleich in eine Neue überführt. Für das Museum Ludwig in Köln bedeutete das vor allem Stress. Denn Huyghe fiel ein Monat vor Ausstellungsbeginn ein, dass er die Wandelemente von der Pariser Ausstellung auch in Köln nutzen möchte. Im Centre Pompidou waren die Wände von der Vorgängerausstellung von Mike Kelly übrig. Er ließ sie zersägen und labyrinthartig aufstellen, um seine Arbeiten zu präsentieren und zugleich wurden, durch das verbindende Element, alle Arbeiten zu einer Synthese, zu einer neuen Arbeit vereint. Die Wände mussten exakt so sein, wie sie in Paris waren. Dafür wurden sie (anders als das der Ausstellungsbegleiter suggeriert, nicht transferiert, sondern) innerhalb kürzester Zeit nachgebaut. In Huyghes Ausstellung gibt es Tiere, einen Hund, Ameisen, Bienen und Aquarien. Er benutzt Trockennebel für eine Installation. In dem betreffenden Raum musste eine zweite Decke und eine Absauganlage eingebaut werden, da der Trockennebel nicht in die Klimaanlage des Hauses geraten darf. Sonst würden die Picassos mit Trockennebelelementen berieselt werden und darunter leiden. Ob Huyghes Institutionskritik sich dadurch äußert, dass er die Anfrage des Museums, auszustellen, annimmt, um dann dem Haus permanent seine eigenen Grenzen vorzuführen und selber ungeachtet der üblichen finanziellen und energetischen Grenzen eine Ausstellung zu realisieren?

Viele grob gearbeitete Wandversatzstücke öffnen in den Räumen des Museum Ludwigs Blickachsen und machen den gewöhnlichen Rundlauf durch eine Ausstellung, einmal an jedem Werk vorbei, in Pierre Huyghes Ausstellung unmöglich. Im Labyrinth kann man sich treiben lassen. Man kann den Verlockungen, den Lichtern und Tönen folgen, die aus diesem oder jenem Winkel kommen. Dabei sind unter anderem Filme, Skulpturen und Tiere zu sehen. The Host and the Cloud (2010) ist zentral platziert und viele Wege führen einen zu dem Film des Events, in dem es nun noch einen weißen animierten Hasen gibt, der stellvertretend für uns ZeugInnen durch das Musée des Arts et Traditions Populaires wandelt und wenn ihm langweilig ist durchaus mal die Buchstaben der Untertitel isst. Der weiße Hund mit dem rosa angemalten Vorderbein, der auch schon auf der dOKUMENTA 12 und im Centre Pompidou dabei war, bewegt sich ebenso wie eine Rolle, d.h. ein scheinbar aus dem Film The Host and the Cloud entlaufener Charakter, durch den Ausstellungsraum. Geräusche, Gerüche und laut ausgesprochene Namen (Name Announcer, 2011) sind in der Luft. Im ersten Teil der Ausstellung ist das Licht gedämpft, viele Filme sind hier zu sehen. Im hinteren Teil steht unter anderem eine Tür zum Innenhof offen, in dem ein steinerner, liegender Frauenakt mit einer belebten Bienenwabe auf dem Kopf zu sehen ist (Untilled, 2012), die ebenfalls schon von der dOKUMENTA 12 bekannt ist.

Soweit es möglich ist, scheint Huyghe auch in den klassischen Museumsräumen des Museum Ludwigs einen Organismus zu konstruieren und sich nicht einfach durch Werk neben Werk zu repräsentieren. Die Ameisen (Umwelt, 2011 (Ameisen)) laufen weiterhin über die weißen Wände und hinterlassen dabei unsichtbare Zeichnungen und auch das Meeresgetier in den Aquarien (Zoodram 2, 2010; Zoodram 4, 2011; Made Ecosystem, 2013) hört nichts auf sich langsam oder schnell durchs Wasser zu bewegen, nur weil niemand mehr hinschaut. Über einzelne lebende Exponate hinaus, stellt auch die Ausstellung als Ganze eine Situation dar, in der die Wahrnehmung der einzelnen Elemente von den jeweils anderen beeinflusst wird. Huyghe ermöglicht eine hochästhetische Erfahrung, deren Beschaffenheit einer Eigenlogik zu folgen scheint. Doch erst wenn die Grundparameter für die gegebene Situation stimmen, kann das Zusammenspiel beginnen. Der Einsiedlerkrebs in einem Aquarium (Zoodram 4, 2011) soll eigentlich einen kleinen goldenen Kopf, der eine Nachbildung der Skulptur Schlummernde Muse [I] von Constantin Brancusi ist, als seine Behausung annehmen. Im Museum Ludwig ist der Krebs aber auch am Tag nach der Eröffnung noch nicht in den Kopf eingezogen, ihm hat die gebotene Zuflucht wohl nicht gefallen. Also wurde er ausgetauscht und ein neuer Krebs sollte die Aufgabe übernehmen. Solange der Krebs nicht im Kopf wohnte, wurde das Aquarium zugehängt, denn es entsprach nicht Huyghes Vorstellungen und passte nicht mehr in das Gesamtkonzept. Doch passen das Absperrband, der abgeordnete Sonderaufpasser und das verhängte Aquarium in den Organismus? Die Landschaften oder Organismen, die Huyghe baut, basieren auf strengen und genauen Vorgaben. Im Museumsraum ist die Möglichkeit zu wahrer Teilhabe und Mitgestaltung aufgehoben. Huyghe ist der Weltenerschaffer und wir sind ZeugInnen, wie Huyghe BeuscherInnen bezeichnenderweise nennt. Im Museumsraum bezeugen wir, was ein großer Künstler geschaffen hat.