Reciprocal Turn (M.H.)

Ja, ein neuer turn! Was ist ein turn? Der Versuch, eine kulturelle Entwicklung oder ein schon immer dagewesenes Charakteristikum durch einen Begriff zu greifen. Geradezu zu entlarven. Was ist der reciprocal turn? Der spricht doch für sich, ist man versucht zu sagen. Und genau darum geht es.

Wenn etwas für sich selber sprechen kann, dann ist es entweder schlüssig, banal offensichtlich oder es kann eigentlich nichts über sich hinausgehend aussagen und murmelt so nur den eigenen Namen. Oha, da haben wir aber ein Fass aufgemacht. Behaupten wir gerade, es gäbe eine kulturelles Charakteristikum, dass bloß seinen eigenen Namen murmelt und nichts über sich hinausgehend aussagen kann? Und worum geht es dabei: um das Werk, die Ausstellung, die Rezipienten, gleich das ganze Kunstfeld? Die Kunst? Wie es scheint, soll sie sich mal wieder verteidigen, sich rechtfertigen ob ihrem Verhältnis zu – ? Gesellschaft, Geschichte, Wahrheit – uns? Geht es beim reciprocal turn um den Grad der Autonomie der Kunst? Ja, nach all den jahrzehntelang andauernden Debatten um die Relevanz der Kunst und um ihre Aufgaben und nach den vielen Avantgarden ist die Frage nach den Bezügen der Kunst noch immer eine zu stellende, und diese Frage ist eng verknüpft mit der Frage nach ihrer Autonomie. 

Jetzt müssen wir einige Begriffe und Betrachtungsebenen auseinanderhalten. Holen wir also ein bisschen aus:

Ist Autonomie hier positiv oder negativ konnotiert? Das kommt darauf an. Auch darauf, ob wir von der Autonomie des Werkes oder des Kunstfeldes sprechen. Bekanntermaßen gibt es das Kunstwerk ohne das Kunstfeld überhaupt nicht. Deswegen ist es ein Unterschied, ob man über die Autonomie – und den reciprocal turn – im Moment der Kunsterfahrung des einzelnen Werkes, im Moment des Besuches einer Ausstellung oder in der Beobachtung all der Bezüge und Funktionsweisen des Kunstsystems nachdenkt. 

Erfahrung – dieser Begriff bezeichnet den Moment zwischen BetrachterIn und Werk, aus dem die Art und Weise ihrer Beziehung zueinander hervorgeht. Auch so ein Begriff, der sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein kann. Für Adorno zum Beispiel stellt die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks einen Konsum-Moment dar. Dieser gaukelt dem betrachtenden Subjekt nur vor, etwas Anderem im gegenüberstehenden Kunstwerk zu begegnen, wobei es dabei nur das bereits Bekannte der eigenen Identität spiegelt. Die Theoretikerin Juliane Rebentisch wertet in ihrer Auseinandersetzung mit Adorno den Begriff der ästhetischen Erfahrung auf und versucht diesen von seiner Bedeutung als künstliche und verfälschte Begegnung mit Kunst zu lösen. Denn darum geht es ja auch, um die Nähe des Begriffs des Ästhetischen zum Künstlichen und um sein schwieriges Verhältnis zum Begriff des Authentischen. 

Womit wir wieder beim Thema der Autonomie wären: Im 18. Jahrhundert war die Forderung nach der Autonomie des Kunstwerkes der Forderung nach Authentizität geschuldet. Werk und KünstlerIn sollten frei von Aufgaben und Marktinteressen ihr reines Potenzial entfalten können und mit dieser Freiheit erst ermöglichen, was in der Kunst steckt. Man sollte nicht vergessen, dass die Forderung nach Autonomie historisch nicht weit von dem Punkt entfernt war, an dem man überhaupt von “Kunst” sprach: an dem sich die Institution Kunst als selbstständige herausbildete. Zunehmend und besonders durch die historische Avantgarde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangte der Begriff der Autonomie eine negative Färbung – weniger gegenüber des Werkes, als gegenüber der Institution. Denn was sollte die Kunst, abgeschnitten von der Lebenspraxis, denn bitte noch leisten? Wenn Rebentisch dennoch die ästhetische Erfahrung stark macht, dann geht es darum, die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit der Distanzierung, durch die erst das Andere – im Sinne Adornos – entstehen kann, zu werten. In dieser Künstlichkeit des Ästhetischen, was sie auch mit dem Theatralen in Verbindung bringt, steckt vielleicht mehr Authentizität der Kunst, als in dem totalen Aufgehen  ebendieser im Leben – was sowieso ein nur schwer vorzustellendes Unterfangen ist, außer man gibt den Begriff Kunst irgendwann einfach auf. Und diese Distanz verlangt einen gewissen Grad an Autonomie sowohl des Kunstwerkes als auch des Kunstfeldes.

Wir stellen also gerade Autonomie ebenso als etwas Erstrebenswertes dar. Das hat schon der Theoretiker Peter Bürger gefordert, wenn er über Distanz als die Bedingung der Möglichkeit von Selbstreflektion schrieb. Und, verknüpft damit, plädieren wir für eine Anerkennung der Selbstbezüglichkeit von Kunst und ästhetischen Prozessen – wieder so ein gefärbter Begriff: Selbstbezüglichkeit. Klingt auch erst sehr böse, ist aber durchaus gängig. Und an dieser Stelle wichtig anzusprechen, denn er kann ebenfalls sehr Verschiedenes meinen – und damit kommen wir endlich zur neusten Wende, dem reciprocal turn:

Selbstbezüglichkeit im Kunstsystem, dieses Phänomen könnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass befreundete KünstlerInnen sich gegenseitig einladen und zitieren, dass das Kunstsystem so über sich selbst nachdenkt, aber nicht darüber hinaus. Dies ist ein Aspekt des reciprocal turn. Als ästhetischen Vorgang meint Selbstbezüglichkeit allerdings erst einmal, dass etwas passiert, dadurch dass es passiert. Es geht um eine im Moment sich vollziehende Wirklichkeitskonstitution, mit der sich eine andere Wende – der performative turn – gerne beschäftigt. Und das ist erst einmal Grundlage künstlerischer Prozesse: Tun, was sie tun. Sich auf sich selbst beziehen, dass weist auf eine Abgeschlossenheit des Kunstfeldes hin, die es schlichtweg als autopoetisches System auszeichnet. Und diese Funktionsweise eines Systems, die ist nicht von Vornherein als negativ zu bewerten, sondern eine Tatsache, zumindest dann, wenn man eine gewisse Autonomie fordern möchte. Kunst setzt sich demnach mit sich selbst auseinander. Die Theoretikerin Erika Fischer-Lichte bezeichnet, bezogen auf Theater und Performance, Kunst als den Ort, an dem die KünstlerInnen über die Bezüge ihrer Werke nachdenken und Versuchsanordnungen erproben können. Schreitet man aber weiter zum reciprocal turn, dann gesellt sich zu dieser Grundlage eine Selbstgenügsamkeit hinzu. Dabei handelt es sich um eine eifrige Genügsamkeit, nach dem Motto: Die Kunst sucht ihre Relevanz emsig in sich selbst. In sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien bezeichnet der Begriff reziprok das Verhalten gegenseitiger Bezugnahme und gegenseitiger Beschenkung. Man könnte also sagen, dass beispielsweise die Geschichte der Kunst dem heutigen Werk seine Bedeutung schenkt, wenn dieses sich auf sie bezieht, und dafür schenkt das heutige Werk der Geschichte die Aufmerksamkeit des Publikums. Es handelt sich beim reciprocal turn um die Erforschung von Referenzen, die das Kunstsystem niemals verlassen und die sich auf der Bedeutsamkeit dieser Referenzen ausruht. Ein anderes Beispiel: Das Kunstwerk deutet auf die Gesellschaft hin, also liegt die Erwartung in der Luft des Ausstellungsraums, dass von irgendwo etwas Gesellschaftliches zurück deutet. Auch in diesem Fall geht es um Bezüge innerhalb des Kunstsystems, denn man deutet eigentlicht nicht auf die Gesellschaft hin, sondern auf die altbekannte Phrase “Kunst und Gesellschaft”. Und von diesen Phrasen gibt es jede Menge; sehr beliebt auch, wie oben angesprochen: “Kunst als Erfahrung”. Dann muss gar nicht die Gesellschaft oder die Erfahrung zurück deuten, sondern bloß die Phrase. Und das wird sie, verlässlich, solange das Publikum entweder gebildet genug oder eingeschüchtert genug ist. Und so lange es solche Banalitäten akzeptiert und dem Werk, der Ausstellung, der Künstlerin und dem Künstler, der Kuratorin und dem Kurator, die sich die eigene Bedeutsamkeit vormurmeln, zuhören mag. Diese wissen alle genau Bescheid über das eigene Feld. Nur erzeugt dies keine horizonterweiternde Instabilität innerhalb dieses Feldes, wenn sie, kunstkritisch, die Beschäftigung mit kunstimmanenten Problemen zwar klug nennen, aber die Nennung als hinreichend werten. So werden die Bezüge, die über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Feld hinausdeuten würden, nur vorgespielt oder angedeutet. Der reciprocal turn meint also nicht L’art pour l’art und auch nicht Kunst oder Ausstellungen, die auf ein intensives Kunsterlebnis oder auf eine ästhetische Erfahrung hinarbeiten –  hier liegt eine nicht misszuverstehende Nähe zum Theatralen vor. 

But who the fuck are We – gebildet oder eingeschüchtert? Keine Ahnung, vor lauter Referenzen blicken wir da auch nicht mehr durch. Wenn es denn bei uns überhaupt eine relevante lebensweltliche Referenz gibt. Der Versuchung der eifrigen Selbstgenügsamkeit zu widerstehen, das proklamieren wir also gerade als hehre Aufgabe. Wie machen wir das? Man kann nur versuchen, das Dickicht der Referenzen ein wenig zu lichten – indem man die Strategien der Kunsttheorie auskostet und einfach auf der Welle des neuesten turns mitreitet: Des reciprocal turns.